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DGPFG-Rundbrief
2/2016 Nr. 52

Dezember 2016

Liebe Mitglieder der DGPFG,

haben Sie nicht auch das Gefühl, dass auf unserer Seele herumgeTRUMPelt wird?

Dass ein Populist einen faktenlosen Wahlkampf gewinnt, sollte uns mehr als nachdenklich stimmen. Die von der Globalisierung vorgegaukelte, aber selten mögliche „Verfügbarkeit“ eines sorgenfreien Lebens erzeugt Gier, Kränkung und am Ende ein Gefühl von Bedeutungslosigkeit. Dies ist der Nährboden für fast alle Zeitphänomene wie auch den Erfolg des Populismus.

Was können wir Psychosomatiker tun?

Der bekannte Freiburger Ethiker Giovanni Maio schreibt in seinem Buch, Medizin ohne Maß: „Das Glück liegt nicht in unserer Hand, sondern in unserer Einstellung.“ …und damit können wir insbesondere mit unseren Patientinnen immer wieder arbeiten. Die biopsychosozial begleitete Elternschaft ist kein Garant aber Voraussetzung für eine Entwicklung zum selbstbewussten, kohärenten Menschen, der weniger Anfälligkeit zeigt für Extremismus, welcher Art auch immer.

Aber auch die ganz allgemeine psychosomatische Begleitung von Frauen in Ihren Lebensübergängen von der Menarche bis zur Menopause und in ihren Krisenzeiten, sei es aus biologischen, psychischen oder sozialen Gründen, hat aus meiner Sicht protektive Effekte.

Indem wir eine ehrliche und ganzheitliche Medizin anbieten, welche sich nicht dem Diktat von Ökonomie und Organisation unterordnet, leisten wir viel für den „Seelenfrieden“ – auch den unseren.

In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie nach Lektüre unseres Rundbriefes auch zu dem Schluss kommen, dass wir in der DGPFG und im Verbund mit den kooperierenden Verbänden gute Arbeit leisten. Vorstand und Beirat sind fleißig und haben viel geschafft. Wir sind auf gutem Weg – sind zunehmend bedeutsam, versuchen klug und evident zu entscheiden und öffnen unsere Grenzen, und damit stehen wir auch politisch auf der aus meiner Sicht richtigen Seite. Ich hoffe, viele von Ihnen sehen das auch so.

In diesem Sinne grüßt Sie herzlich und in freudiger Erwartung auf ein Wiedersehen in Dresden

Dr. Wolf Lütje
Präsident der DGPFG

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Inhaltsverzeichnis

Seite 3
Einladung zur Mitgliederversammlung


Seite 4
Klausurtagung im September 2016


Seite 5
Gewalt gegen Frauen


Seite 6
Die neue Homepage


Seite 7
DGPFG-Kongress 2017


Seite 8
Nationales Zentrum Frühe Hilfen


Seite 9
Kooperationen – Informationen und Stand der Dinge


Seite 10
Das Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland BKiD


Seite 10
Perspektiven der psychosozialen Kinderwunschberatung in Deutschland – Tagung in Hamburg


Seite 11
Initiative Klug entscheiden


Seite 12
Kongressberichte


Seite 12
61. Kongress der DGGG 2016


Seite 13
DGPFG-Sitzung zu Migrationsthemen auf der DGGG-Tagung 2016


Seite 14
23. Jahrestagung des AKF


Seite 15
Fachtag „Gelingende Geburtshilfe“


Seite 16
Studie: Deutschland hat weniger Sex


Seite 17
Buchtipps


Seite 17
Vertrauen in die natürliche Geburt


Seite 17
Schönheitsmedizin


Seite 18
Impressum

DGPFG-Rundbrief 2/2019 Nr. 58

DGPFG-Rundbrief
2/2019 Nr. 58

Dezember 2019

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

nicht selten werde ich damit konfrontiert, dass Fachgesellschaften wie die unsere überflüssig geworden sind, weil der Grundgedanke der biopsychosozialen Medizin ohnehin schon überall Einzug gehalten hat.

So sehr dies einerseits durchaus zu beobachten ist, so sehr ist mir auch in diesem Jahr in vielfältiger Weise klar geworden, dass wir noch weit von diesem wünschenswerten Ziel entfernt sind.

Beispielhaft stelle ich bei der Gewaltdebatte in Bezug auf die Geburtshilfe fest, dass es neben strukturellen Problemen vor allem kommunikative Defizite sind, welche mitunter eine ohnehin schon gewaltige Geburt gewalttätig begleiten. In vielen Gremien haben wir uns bei dieser Thematik eingebracht und insbesondere in Bezug auf die Prüfungsordnung im Rahmen der anstehenden Hebammen-Akademisierung klar definiert, dass psychosomatische Grundversorgung, Kommunikationstraining und Selbsterfahrung selbstverständlicher Bestandteil der Hebammenausbildung sein sollten.

Die vielfältigen und weiter notwendigen Aktivitäten unserer Gesellschaft in Bezug auf die Verbreitung unseres psychosomatischen Grundgeistes können Sie den Beiträgen unseres Rundbriefs entnehmen. Wir blicken so gesehen auf ein erfolgreiches 2019 zurück.

Im Jahr 2020 werden wahrscheinlich neue Besen kehren. Der Vorstand steht vor einer Umstrukturierung, hat aber das Glück, hoch kompetente Mitstreiter*innen gefunden zu haben, die sich zur Wahl stellen wollen, sodass wir das Schiff mit Sicherheit weiter auf gutem Kurs halten werden.

Auf der Mitgliederversammlung im Rahmen unserer nächsten Jahrestagung in Jena, zu der ich Sie natürlich herzlichst einladen möchte, werden wir Ihnen die neuen personellen und inhaltlichen Konzepte vorstellen.

In der Hoffnung, dass die anstehende, leider heute durchgehend unruhige Zeit für Sie nicht besinnungslos verläuft,

grüßt Sie herzlichst

Wolf Lütje
Präsident

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Inhalt

  • Einladung zur Mitgliederversammlung der DGPFG 2020
  • Gemeinsame Beratung von Vorstand und Beirat der DGPFG
  • DGPFG-Kongress 2020: Die DGPFG lädt vom 12. bis 14. März 2020 nach Jena ein
  • Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Frauenheilkunde – Eine Herausforderung
  • Neuer DGPFG-Forschungspreis verliehen
  • Gynäkologische Psychosomatik international
  • Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“
  • Neue Kooperationsvereinbarung der DGPFG mit der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie (DGPM)
  • Deutsche STI-Gesellschaft- Gesellschaft zur Förderung der Sexuellen Gesundheit
  • Arbeitsgemeinschaft Gynäkologie, Geburtshilfe, Urologie, Proktologie
  • Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland (BKiD)
  • Jahrestagung der DeGPT vom 13. bis 15. Februar 2020 in Berlin
  • Informationen aus dem Arbeitskreis Frauengesundheit
  • Für eine bestmögliche Versorgung – Der Deutsche Hebammenverband
  • In eigener Sache: Zukunft des Rundbriefs?

Frau Prof. Mechthild Neises zur Präsidentin elect der ISPOG gewählt

Präsidium der ISPOG gewählt

Frau Prof. Mechthild Neises zur Präsidentin Elect gewählt

Im Rahmen des vom 9. bis 12. Oktober 2019 im Niederländischen Den Haag stattfindenden 19. Internationalen Kongresses der International Society of Psychosomatic Obstetrics and Gynaecology (ISPOG) fanden auch die Mitgliederversammlung der internationalen Dachgesellschaft der Psychosomatischen Frauenheilkunde und die turnusmäßigen Neuwahlen des Präsidiums statt.

Dabei wurde Frau Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Mechthild Neises aus Aachen auf Vorschlag unserer Gesellschaft mit großer Mehrheit zur neuen Präsidentin Elect gewählt.

Damit wird Sie ab sofort dem Präsidium der ISPOG angehören und ab 2022 Präsidentin der Gesellschaft sein.

Frau Dr. med. Vivian Pramataroff-Hamburger aus München wurde als Schatzmeisterin der Gesellschaft für weitere 3 Jahre wiedergewählt.

Wir freuen uns sehr über die erfolgreiche Wahl unserer Vertreterinnen in das Präsidium und wünschen Ihnen für die Arbeit in diesen Funktionen viel Erfolg.

Mechthild Neises – President elect – Deuschland
Leroy Edozien – President – Grobritannien
Sibil Tschudin  – Past President – Schweiz
Caroline Vos – Secretary General – Niederlande
Vivian Pramataroff-Hamburger – Treasurer – Deuschland

Foto: Carsten Braun

DGPFG-Rundbrief 1/2019 Nr. 57

DGPFG-Rundbrief
1/2019 Nr. 57

Juni 2019

Liebe Mitglieder,

eine Frau, welche in unserer Klinik unbedingt interventionsfrei entbinden wollte, verlangte irgendwann völlig erschöpft einen Kaiserschnitt in Vollnarkose. Ich werde hinzugezogen. Ich erkläre der Frau, dass dies wahr­scheinlich keine selbstbestimmte Entscheidung ist, sondern dass sie einer Fremdbestimmung von Anstrengung und Schmerz unterliegt. Ich schlage daher eine Periduralanästhesie vor, um eine selbstbestimmte Entscheidung möglich zu machen. Die Patientin kann dies nachvollziehen. Sie entbindet nach 2 Stunden spontan und ist überglücklich.

Bei einer im Geburtsverlauf schon sehr früh schmerzgeplagten alleinstehenden Mutter, die nur Portugiesisch spricht, kann trotz mehrfacher Versuche in einer extrem angespannten Situation keine Periduralanästhesie angelegt werden. Ein Dolmetscher ist nicht verfügbar. Noch in der Latenzphase kommt die Patientin mit Schmerzmitteln gut über die Nacht. Am Morgen gelingt es dann mit Dolmetscher unter Tavor, problemlos eine Periduralanästhesie anzulegen. Die Frau entbindet am Ende spontan.

Beides, finde ich, sind Beispiele für richtig verstandenes psychosomatisches Wirken im Klinikalltag. Es geht eben manchmal um nichts anderes, als um richtige Kommunikation, ein richtiges Verständnis von Selbstbestimmung, oder einfach nur um die Überwindung von Sprachbarrieren.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihren Berufsalltag mit einer so verstandenen Psychosomatik verzaubern können.

Ich hoffe, dass Sie die Inhalte unseres Rundbriefes auch noch zu vielem anderem inspirieren, vor allem zum Besuch unserer nächsten Jahrestagung in Jena, die unter Ekkehard Schleußner in bester Vorbereitung ist.

Mit herzlichem Gruß

Ihr

Dr. Wolf Lütje
Präsident der DGPFG

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Inhalt

  • DGPFG-Kongress 2019
  • Die DGPFG – eine Wissenschafts-gesellschaft?!
  • Vorschau DGPFG-Kongress 2020
  • Thema „Gewalt gegen Frauen“
  • Die DGPFG bezieht Stellung
  • ISPOG: 19. Kongress in Den Haag
  • Psychosomatische Grundversorgung / ZWB Psychotherapie
  • 2. Arbeitstreffen des interdisziplinären Forums
  • Zusatzweiterbildung Sexualmedizin
  • 80. Geburtstag des Ehrenpräsidenten Dr. Paul Franke
  • S3-Leitlinie Peri- und Postmenopause
  • Tagungen und Kongresses
  • Buchtipps
  • Was gibt es neues beim VPK?
  • BZgA – Frühe Hilfen
  • Bericht der AG GGUP
  • Neuer Partner: DeGPT
  • Fachtagung der AKF6
  • Vorgestellt: DAGG
  • Aktivitäten der BKiD
  • In eigener Sache

Wir gratulieren Dr. Paul Franke, dem Ehrenpräsident der DGPFG, zu seinem 80.Geburtstag!!

Einige Worte zum 80. Geburtstag für Dr. med. Paul Franke 

„Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, Daß Blüt und Frucht die künft ´gen  Jahre zieren“ (Goethe, Faust I, V. 310-311)

Vor über 40 Jahren 1977 bin ich Paul Franke das erste Mal auf einer Psychotherapietagung in  Friedrichroda begegnet, als er über Anfängerprobleme mit Psychotherapie in einer Frauenklinik referierte und mir aus dem Herzen sprach. Er war auf der Suche nach an der psychosomatischen Frauenheilkunde interessierten Kolleginnen und Kollegen. Seit dieser ersten Begegnung sind wir Gefährten und gemeinsam durch alle Stürme des Lebens gegangen, zunächst kollegial und dann freundschaftlich verbunden.

Paul Franke wurde am 3. Juni 1939, wenige Monate vor Kriegsausbruch in Schönebeck an der Elbe geboren, im gleichen Jahr, in dem Sigmund Freud in London in seinem Exil verstorben ist. Die Schulzeit schloss er 1957 in seiner Heimatstadt Schönebeck mit dem Abitur ab und begann sein Medizinstudium 1960 an der Medizinischen Akademie Magdeburg, das er nach einem Wechsel an die Martin-Luther-Universität Halle 1966 mit dem Staatsexamen beendete. Die Facharztausbildung zum Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe absolvierte er wiederum an der Medizinischen Akademie Magdeburg, promovierte zum Dr.med. mit dem Thema „Zur Frage der Geburtseinleitung bei verlängerter Tragzeit“ Es folgte die Stationsarzttätigkeit auf verschiedenen Stationen der Frauenklinik unter der wohlwollenden Förderung seines Chefs  Prof. Dr. med. habil. Lindemann, der sich auch später als ein Unterstützer und Förderer seines psychotherapeutisch-psychosomatischen Werdegangs erwies.   Etwa 1974 beginnt Paul Franke  seine nebenberufliche psychotherapeutische Weiterbildung, in der er sich mit allen in der DDR möglichen Psychotherapieverfahren vertraut machte, wobei die Gruppenselbsterfahrung, zunächst als Teilnehmer und dann als Trainer, seine dynamisch-psychotherapeutische Ausrichtung und Haltung prägten.

Kurt Höck (1920-2008), Internist, die DDR-Psychotherapie-Szene prägender Psychotherapeut und Begründer der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie schrieb 1973 im Auftrag des Leipziger Georg Thieme Verlages ein Büchlein zum Thema: „Psychotherapie in der modernen Gynäkologie“. Er, der immer wieder Gynäkologen ermutigte, sich für seelische Aspekte in ihrem Fach zu öffnen stimmte Paul Franke um, der auf dem besten Weg war, die Frauenheilkunde zu verlassen, um sich unter Gleichgesinnten voll der Psychotherapie zu widmen. „Herr Franke“, so Höck, „in der Frauenheilkunde werden Sie gebraucht, da gibt es in der DDR noch nichts.“ Hier ist es wohl zur „Empfängnis“ gekommen, denn von nun an identifizierte sich Paul Franke immer mehr mit dem psychosomatischen Projekt innerhalb der Frauenheilkunde und machte sich auf die Suche nach  Mitstreitern.

Am 16. November 1979 traf sich auf Einladung Paul Frankes eine kleine Gruppe von leidenschaftlich an der Psychosomatik interessierter Frauenärzte in Magdeburg, um die  „Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe“ ins Leben zu rufen. Für DDR-Verhältnisse ein unerhörter und eigentlich unmöglicher, ja geradezu oppositioneller Vorgang, hatte sich doch hier eine nicht „von oben“ verordnete, wie sonst üblich, sondern „von unten“ ganz freiwillig und an der Sache interessierte und motivierte Kollegenschaft zusammengefunden. Diese zunächst sehr kleine Gruppe war in den folgenden Aufbaujahren sehr aktiv. Nach Innen durch eigene psychotherapeutische Qualifikationen und nach Außen mit Vorträgen und Fortbildungsseminaren.  Von der  „Muttergesellschaft“, der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR erfuhren die Gruppe zunächst kaum Beachtung, umso mehr durch die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, in der sie eine wahrlich nicht „stiefmütterliche“ Heimat fand, sondern wohlwollende Aufnahme und Förderung erfuhr.

Ein erster Höhepunkt war die von Paul Franke angeregte erste öffentliche und legendäre Tagung in Magdeburg im November 1984, auf der Christa Wolf als Festrednerin sprach. Die folgenden Tagungen durch einen Vortrag einer Schriftstellerin zu eröffnen wurde schöne Tradition. Die jüngeren Leser, können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was es bedeutet hat und mit welchen Schwierigkeiten es verbunden war, Christa Wolf, die einstige  Vorzeigeliteratin der DDR, aber zu diesem Zeitpunkt schon lange wegen ihres Protestes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns beim Politbüro in Ungnade gefallen, auf so einer Tagung sprechen zu lassen.  Es gehörte eine Portion Mut und Standfestigkeit dazu, dass sich Paul Franke nicht von diesem Vorhaben hat abbringen lassen. Freunde hatten ihm davon abgeraten, ja Christa Wolf selber hatte gewarnt, sie als Festrednerin einzuladen und sprechen zu lassen. Es ging hierbei nicht nur um Zweifel und Kritik an einer allein auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse ausgerichteten Medizin, sondern eben auch um implizite Kritik an den politischen Verhältnissen und eine damit auch verbundene öffentliche Positionierung.

Die Tagung war ein Durchbruch. Ein anspruchsvolles Ausbildungssystem wurde entwickelt und etabliert. Paul Franke ging es in erster Linie um die Vermittlung einer psychosomatisch- und beziehungsorientierten Haltung und weniger um Behandlungstechniken, so wichtig sie sind. Dabei waren ihm die themenzentrierten Auseinandersetzungen und Selbsterfahrungen (Sexualität, Schwangerschaftskonflikt, Körperliche Untersuchung, Leiden und Sterben u.a.) mit sich selbst, als Gradmesser für Verständnis und Umgang mit diesen Themen in der Patientenbegegnung zentral. Das kommt auch in seinen zahlreichen Buchbeiträgen und Vorträgen auf nationalen und internationalen Kongressen zum Ausdruck. Er war der erste Gynäkologe der DDR, der die Zweitfacharztprüfung zum Facharzt für Psychotherapie ablegte und 1981 den ersten  Arbeitsbereich für Psychotherapie und Psychosomatik an der Frauenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg gründete.

Schon weit vor der Wende pflegte Paul Franke Kontakt mit Kollegen aus Westdeutschland, vor allem mit Hans-Joachim Prill. Einerseits die Einheit Deutschlands sehnsuchtsvoll erwartend, andererseits heftig im Widerstreit liegend mit den würdelosen „Vereinigungen“ medizinischer Fachgesellschaften, versuchte er dies für „seine“ Gesellschaft zu verhindern. „Wir müssen uns auseinandersetzten, wenn wir uns zusammensetzten wollen. Eine wirkliche Vereinigung, die ich möchte, kann erst beginnen, wenn wir die Unterschiede akzeptieren, ohne sie zu bewerten.“, so sein Grundsatz in dieser Frage. Eine Annäherung beider Gesellschaften auf Augenhöhe wurde möglich. Nicht zuletzt durch Paul Franke, der die Gruppe festigte und sich für ein selbstbestimmtes Auftreten in diesem Vereinigungsprozess  stark machte. Die Zusammenarbeit wurde mit gemeinsamen Projekten (u.a. Lebensschutzgesetz, Ausbildungskurrikulum) durch einen Kooperationsvertrag intensiviert. In einer eindrucksvollen Mitgliederversammlung am 8. November 1996 in Eggersdorf gab Paul Franke, der den Verein gegründet und über 17 Jahre geleitet hatte, den Staffelstab an Carmen Dietrich weiter. Gleichzeitig beschloss die Versammlung nach intensiver Diskussion einstimmig der bisherigen Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe das Wort „Ostdeutsch“ voranzustellen. Zusammengefasst wünschten die Teilnehmer unter Wahrung der Identität eine Namensänderung, um einerseits die historisch gewachsenen und regionalen Besonderheiten zu bewahren und andererseits jetzt zielstrebig die Vereinigung beider Gesellschaften zu befördern. Am Ende des Prozesses stand die Auflösung beider Fachgesellschaften mit dem Ziel, gemeinsam in einer neugegründeten Gesellschaft aufzugehen. Ein einmaliger würdevoller Vorgang im deutschen Einigungsprozess auf den die Mitglieder stolz sein können. Paul Franke war hier ein zwar kritischer aber wohlwollender Begleiter.
Auf Grund seiner großen Verdienste um die psychosomatische Gynäkologie erhielt er 1999 die Ehrenmedaille der Kath. Universität Leuven (Belgien), im Februar 2000 feierlich das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bunderepublik Deutschland  und 2001 die Ehrenpräsidentschaft der DGPFG. Mit seinem Ausscheiden aus der Klinik und seiner Niederlassung 1993 als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in Magdeburg verlagerten sich seine Arbeitsschwerpunkte mehr in Richtung berufs-, lehr- und fachpolitische Aktivitäten innerhalb der Psychotherapieszene. So gehörte er 1999 zu den Mitbegründern des Institutes für Psychoanalyse Magdeburg, dessen Ehrenmitglied er heute ist. Er ist Dozent, Lehr- und Kontrollanalytiker der DGPT und DPG. Inzwischen fließen sein Wissen, seine Lebenserfahrungen und seine Beobachtungsgabe ein in regelmäßig erscheinende Zeitungskolumnen über gesellschaftlich bedeutende Ereignisse.

All die hier bei weitem nicht vollständig benannten Aktivitäten und Entwicklungen, die Paul Franke begründet, angestoßen, gelehrt, gefördert und gelebt hat sind ohne das Wichtigste, seine  Persönlichkeit nicht denkbar. In den vielen Jahren gemeinsamen Wirkens hat Paul Franke mich immer unterstützt und gefördert. Für ihn waren Fleiß, Zuverlässigkeit, Disziplin, Pflichtbewusstsein und Loyalität – das, was man die Sekundärtugenden nennt – keine Fremdwörter, sondern gelebte Wirklichkeit. Unsere Beziehung hat Differenzen, unterschiedliche Auffassungen und handfeste Auseinandersetzungen ausgehalten, konnten wir doch immer offen und direkt unsere Konflikte klären. Pauls Autorität bestand darin, als Leiter notwenige Gestaltungsmacht nicht für sich selbst, die Karriere, das Ansehen einzusetzen, sondern in erster Linie für die Sache, das psychosomatische Projekt und die Gemeinschaft.

Wir alle, der Vorstand, die Mitgliedschaft und ich haben Dir von Herzen zu danken. Wir  gratulieren Dir zum 80. Geburtstag, wünschen Gesundheit, Lebenskraft und bleibende Kreativität und rufen Dir mit Fontane zu: „Kummer sei lahm! Sorge sei blind! Es lebe das Geburtstagskind!”

Zwickau im Juni 2019

Arndt Ludwig

Gyne 03/2019 – Kreativtherapien fördern Heilungsprozesse bei gynäkologischen Patientinnen

Gyne 03/2019

Kreativtherapien fördern Heilungsprozesse bei gynäkologischen Patientinnen

Autoren:

  Adak Pirmorady              Jalid Sehouli

        

Einleitung

Unter Kreativtherapien werden alle expressiven Therapieformen zusammengefasst, bei denen das Erleben von Emotionen und Gedanken im Mittelpunkt steht. Sie sind demnach im Gegensatz zu den Gesprächstherapien erlebnisorientiert und ermöglichen in einem geschützten Rahmen die Verinnerlichung von neuen Beziehungserfahrungen, die wiederum stabilisierend und selbstwirksamkeitsfördernd wirken können.

Zu den häufigsten eingesetzten Kreativtherapien gehören: Die Mal- oder Kunsttherapie, die Musiktherapie und die Körperwahrnehmungstherapie. Es gibt jedoch eine Vielzahl weiterer Therapieformen, welche man unter Kreativtherapien zusammenfassen kann, wie Tanztherapie, Theatertherapie, Schreib-/Poesietherapie, Bibliotherapie, Trommel-Therapie, therapeutisches Singen, Eurythmietherapie, therapeutische Sprachgestaltung − um nur einige davon aufzuzählen. Zu betonen ist aber, dass die Übergänge der einzelnen Therapieformen fließend sein können und es inhaltliche Überschneidungen geben kann. So kann beispielsweise beim kreativen Schreiben auch der Einsatz von Farben oder gar kurzen Malübungen eingebaut werden, ohne dass dieser Prozess in Konkurrenz zum Schreiben stehen müsste.

Kreativtherapien in der Praxis

Prinzipiell ist ein direkter bzw. indirekter Umgang mit Kreativtherapien für den Frauenarzt möglich. Zum einem kann er Aspekte von Kreativtherapien für die Arzt-Patientin-Kommunikation nutzen, um beispielsweise einen Zugang zu den Ängsten der Patientin zu bekommen, die von der Patientin selbst abgewehrt werden müssen und nicht in den direkten Kontakt mit dem Arzt gebracht werden. Der Frauenarzt kann aber auch an Spezialtherapeuten und damit an Dritte delegieren. Ein in regelmäßigen Abständen durchgeführter interdisziplinärer Austausch ist hierbei sehr ratsam – vorausgesetzt, die Patientin stimmt dem zu.

Anwendung finden Kreativtherapien vor allem in Rehabilitationseinrichtungen, aber auch in psychosomatischen Kliniken, psychiatrischen Kliniken und in der Arbeit mit Kindern oder geriatrischen Patienten. Vereinzelt gibt es auch somatische Stationen, die Kreativtherapieangebote in ihrer Einrichtung anbieten. In einem Pilotprojekt der Frauenheilkunde der Charité beispielsweise wird das kreative Schreiben für Patientinnen, die an einer Eierstockkrebserkrankung leiden, seit 2017 angeboten. Für seinen Erfolg spricht der große Zuwachs an Teilnehmerinnen − zwischen 12 und 15 Frauen nehmen inzwischen an den Sitzungen, die zwei Mal im Monat stattfinden, wahr. Im Gruppengefüge entsteht ein unglaublicher Zusammenhalt in einer stabilisierenden, vertrauten Atmosphäre, der einen großen Zugewinn für die teilnehmenden Frauen bedeutet.

Anamnese ist das A & O

Es gibt eine Vielzahl an Angeboten, wenn es um den Erwerb der Fähigkeit zum Kreativtherapeuten geht. Hierbei ist die persönliche Affinität desjenigen, der sich mit einem der kreativen Bereiche auseinandersetzt, von großer Bedeutung. Beim Einsatz von Kreativtherapien ist der wichtigste Aspekt sicherlich, für jeden Patienten individuell das richtige Verfahren zu finden. Hierbei geht es besonders um die fundierte und detaillierte Anamneseerhebung. Dabei sollte der Behandler feinfühlig erspüren, bei welchem Thema die Patientin sich in ihrem Denken frei bewegen und artikulieren kann. Die Patientin kann so plötzlich zu einer im Erstkontakt zuvor nicht dagewesenen Sicherheit und Vertrautheit finden. Sie berichtet von ihrem Erlebnis und ihrer Erfahrung in einem bestimmten Feld und wirkt dabei frei.

Indem die Patientin durch einen intrinsischen Drang einer Aktivität nachgeht, von der sie so überzeugt ist, dass es keine Zweifel, keine Einschränkungen gibt, kann sie einen meditativen Rhythmus mit sich selbst finden. Solche Zustände haben Kinder und Heranwachsende, die sich frei von Bewertung, von Zeitempfindung oder ökonomischen Druck mit einer Sache beschäftigen, die sie begeistert.

Dieses Gefühl sollte vom Therapeuten erfragt und erspürt werden, um dann im Heilungsprozess genutzt zu werden. Hilfreich kann dies auch im Sinne der Resilienz sein, die versucht, stabilisierende Erfahrungen für die traumatische Auseinandersetzung im Rahmen von Krankheiten zu nutzen. Dies können, je nach sozialem Hintergrund und individuellen Erfahrungen, alle Arten des kreativen Wirkens und Erleben sein, sei es Musik, Tanz, Malen oder Schreiben.

Authentischer Dialog zur Art-Patientinnen-Bindung

Hierzu sollte der Therapeut oder der Behandler mit den Patientinnen versuchen, die Wege einzuleiten, dieses Verfahren oder Teile davon zu etablieren. Es ist sicher hilfreich, die Patientin mehrfach zu sehen, um wiederholt nach den kreativen Quellen und der Umsetzung zu fragen oder auch die Patientin in das gewohnte selbstwertfördernde Gefühl aus der bekannten kreativen Aktivität zurückzuführen. Auch wenn es erst einmal fast nur über die Imagination geht, da der Behandler in den seltensten Fällen selber die Kreativtherapien bei seinen Patientinnen anwenden wird. Aber er könnte es anbieten und sollte auch damit experimentieren. Dabei ist es durchaus möglich, seine kreativen Vorlieben einzubauen. So kann ein authentischer Dialog entstehen, der angstfrei zu einer intensiveren Arzt/Patient-Beziehung, zu einem besseren Gefühl für Patientin und Behandler, zu einer stärkeren Compliance und damit einem erhöhten Therapie-Outcome führen kann. Mitunter kann eine kreativtherapeutische Ausbildung z. B. zum kreativen Schreib-, Kunst-, oder Musiktherapeuten auch für den Behandler selbst einen wichtigen protektiven Schritt bedeuten.

Interessant ist jedoch die Unterstützung des Heilungsprozesses durch die Kreativtherapien. Das abgebildete Schema (Abb. 1) zeigt einen besonderen Aspekt der Kreativtherapien: Zu der Beziehung zwischen Patient und Therapeut kommt in der Kreativtherapie etwas Neues − „ein Drittes“ − hinzu. Es entsteht also eine trianguläre Beziehung. Das Dritte kann ein Text, ein Bild, ein Instrument, die Stimme oder auch der Prozess an sich sein. Dieser Moment kann für beide Seiten einen befreienden, entlastenden Charakter haben und somit zu einer Art unaufdringlichem Raum werden, in dem Therapeut und Behandler in festgesetzten Grenzen an Übertragungen und Projektionen arbeiten können. Ängste, aber auch andere aversive Affekte wie Scham oder Aggressionen dürfen in diesem Raum gelebt und erlebt werden. So kann es letztlich zur Verinnerlichung neuer Erlebnisse und Beziehungserfahrungen kommen, welche mitunter für einen Perspektivwechsel sorgen können.

Das Schema zeigt des Weiteren, welche Elemente des Selbst in der Kreativtherapie jeweils gefördert oder ausgebaut werden können. Die aufgeführten Anteile münden letztlich in einem stabilen Selbstwert der Patientinnen. Die gynäkologische Behandlung umfasst grundsätzlich sowohl präventive als auch akute Behandlungssituationen und die Nach(Für)- sorge bei Patientinnen mit gynäkologischen Malignomen. Patientinnen mit gynäkologischen Karzinomerkrankungen und nach Behandlung ihrer Erkrankung leiden signifikant häufiger an Schlafstörungen, Fatigue Syndrom, einer problematischen Sexualität, neurologischen Symptomen und Depressionen [1]. Der Anteil der Langzeitüberlebenden nach beispielsweise dem Ovarialkarzinom liegt bei ca. 31 % [2]. Dies zeigt den Behandelnden auf, dass es gerade auch um Aspekte der Lebensqualität gehen muss, um diese Zeit in einer zufriedenen Art genießen zu können. Insbesondere das Fatigue Syndrom, aber auch die Polyneuropathie können über Kreativtherapien − hierzu zählen Bewegung, Tanz und Yoga − positiv beeinflusst werden, auch wenn die wissenschaftliche Datenlage hierzu noch ungenügend ist. In den Leitlinien für onkologische Patientinnen werden die Kreativtherapien daher empfohlen.

Leider sind die Kreativtherapien ausschließlich in komplexen Fallpauschalen enthalten. Eine ambulante Kostenerstattung durch die Krankenkasse ist noch nicht möglich, wäre jedoch eine denkbare Ergänzung zu herkömmlichen Therapieangeboten. Kreativtherapien sollten häufiger zur Anwendung kommen, wobei Standards und Qualitätsindikatoren definiert werden müssen, um eine tragbare Diskussion zu Indikation und Nutzen führen zu können. Dies steht nicht im Widerspruch des Wunsches nach einer individuellen Begleitung von Frauen mit gynäkologischen Tumoren.

Fazit

Kreativtherapien stellen eine wichtige Möglichkeit der Förderung  des Heilungsprozesses dar. Sie sind nonverbale Erlebnis- und Handlungsorientierte Therapieverfahren, welche genutzt werden sollten, um Prozesse wie die freie Assoziation, Projektionen oder Übertragungen aufzudecken, um mit diesen prozesshaft zu arbeiten. Mehr von der eigenen Struktur, der Persönlichkeit, dem Ureigenen zu verstehen, kann zu einer enormen Kraftentwicklung führen. Diese Kräfte sollten genutzt und eingesetzt werden.

Schlüsselwörter: Tanztherapie, Theatertherapie, Schreibtherapie, Bibliotherapie, Trommel-Therapie, therapeutisches Singen, Eurythmietherapie

 

Korrespondenzadressen:

Dr. med. Adak Pirmorady
Vorsitzende der Künstlergilde für Medizin und Kultur
Praxis für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie − Dr. med. Torsten Müller
Kleiststrasse 34
10787 Berlin
Tel.: +49 (0) 30 95 61 39 29
adak.pirmorady@aol.de

Prof. Dr. med. Jalid Sehouli
Direktor der Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie Charité – Universitätsmedizin Berlin
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Tel.: +49 (0) 30 450 564 002
jalid.sehouli@charite.de

Slide Kreativtherapien fördern Heilungsprozesse bei gynäkologischen Patientinnen Gyne 03/2019

Literatur:

  1. Westin SN, Sun CC, Tung CS, et Survivors of gynecologic malignancies: impact of treatment on health and well-being. J Cancer Surviv. 2015; 10(2): 261−70
  2. Cress R, Chen YS, Morris CR, Characteristics of Long-Term Survivors of Epithelial Ovarian Obstetrics & Gynecology 2015: 126 (3): 491–497

 

Gyne 02/2019 – PMS und PMDS – Behandlungsmöglichkeiten in der Frauenarztpraxis, wenn die psychischen Symptome im Vordergrund stehen

Gyne 02/2019

PMS und PMDS – Behandlungsmöglichkeiten in der Frauenarztpraxis, wenn die psychischen Symptome im Vordergrund stehen

Autorin: Anke Rohde

 

Einleitung

Zyklusabhängige Beschwerden körperlicher Art bzw. Beschwerdekomplexe, die als Prämenstruelles Syndrom (PMS) zusammengefasst werden können, sind häufige Beratungsanlässe in der Frauenarztpraxis; auch entsprechende Behandlungsstrategien gehören zur alltäglichen Praxis. Schwierig kann es werden, wenn die psychische Symptomatik mit ausgeprägten affektiven Symptomen (z. B. Gereiztheit, Wut, Anspannung, Stimmungslabilität, Depressivität) im Vordergrund steht.

In Abgrenzung vom „klassischen“ PMS kann man die Prämenstruelle Dysphorische Störung (PMDS) als die schwerste Form eines PMS bezeichnen, bei der zudem die ausgeprägten psychischen Beschwerden im Vordergrund stehen und den Leidensdruck verursachen.

Behandlung der PMDS auch in der Frauenarztpraxis – kein Hexenwerk!

Aktuell muss davon ausgegangen werden, dass zwischen 3−8 % aller Frauen im gebärfähigen Alter unter der Prämenstruellen Dysphorischen Störung (PMDS), der schwersten Form eines PMS, leiden [1]. Rechnet man sehr konservativ 3 % PMDS bezogen auf die 15,3 Millionen Frauen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren in Deutschland [2], dann sind dies über 450.000 Betroffene, die pro Zyklus mehrere symptomatische Tage erleben. Es ist einfach nachzurechnen, dass sich das wiederum im Laufe der Reproduktivität zu mehreren Jahren aufaddiert. Grund genug also, sich mit diesem Thema näher zu beschäftigen.

Frauen, die sich im Internet über PMS bzw. zyklusabhängige psychische Probleme informieren, stoßen bald auf den Begriff „Prämenstruelle Dysphorische Störung“ (PMDS) und auf Angaben zur Behandlung dieses Symptomenkomplexes mit Antidepressiva vom SSRI-Typ. Weil der Einsatz von Antidepressiva nicht zur frauenärztlichen Grundkompetenz gehört, mag es zu Unsicherheiten führen, wenn eine Patientin sich mit diesem Anliegen vorstellt, und vielleicht auch dazu, dass Frauen nicht behandelt werden.

Im vorliegenden Artikel* soll deshalb der Schwerpunkt auf der Diagnosestellung der PMDS und der Behandlungsmöglichkeiten der psychischen Symptome, insbesondere mittels medikamentöser (antidepressiver) Strategien stehen, was aus Sicht der Autorin durchaus im Rahmen der frauenärztlichen Möglichkeiten liegt und befürwortet wird. Dafür sprechen mehrere Gründe:

  • Frauen mit reiner PMDS (ohne sonstige psychiatrische Erkrankung) gehören auch nicht zur typischen Klientel von Psychiatern
  • Nach der bisher gültigen ICD-10- Klassifikation, in der es keine Diagnosekategorie PMDS gibt (in der ICD-11 wird sich das voraussichtlich ändern) lässt sich die PMDS nicht eindeutig klassifizieren, und vor diesem Hintergrund kann die Gabe von Antidepressiva in solchen Fällen auch für Psychiater eine Off-label-Behandlung sein (was aber ja nicht gegen deren Einsatz spricht)
  • Aufgrund der mehr oder weniger regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen besteht in der Frauenarztpraxis eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Frauen dieses „zyklusabhängige“ Thema irgend- wann ansprechen und Hilfe erwarten.

Zyklusabhängige Verschlechterungen von somatischen / psychischen Erkrankungen

Bei manchen Frauen finden sich zyklusabhängige Verschlechterungen bzw. Exazerbationen somatischer oder psychischer Störungen; zu nennen sind hier beispielsweise Asthma, Migräne oder Epilepsie bei den somatischen Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen, aber auch Psychosen bei den psychischen Störungen. Berichtet die Patientin über zyklusabhängige Schwankungen einer solchen Erkrankung, empfiehlt sich zunächst die Führung eines Zyklustagebuches (€ Abb. 1,31), um den Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus zu verifizieren.

Ergeben sich Hinweise auf zyklusabhängige Symptomschwankungen, sollte gemeinsam mit dem Behandler der psychischen Grunderkrankung überlegt werden, ob beispielsweise eine zyklusmodifizierte Therapie (z. B. Erhöhung der Dosis des jeweiligen Medikamentes für den betreffenden Zeitraum) oder die Zugabe  einer  „Pille“,  evtl.  auch  im Langzyklus, hier Abhilfe schaffen kann. Umstellungen in der Medikation sollten immer von der Führung eines Zyklustagebuches (€ Abb. 1,31) begleitet werden, um den Effekt zu dokumentieren.

Das „klassische“ Prämenstruelle Syndrom (PMS)

Psychische und körperliche Veränderungen werden von vielen Frauen in der zweiten Zyklushälfte, besonders in der Woche vor der Menstruation, wahrgenommen. Nur etwa ein Viertel der Frauen im gebärfähigen Alter bemerkt überhaupt keine Änderungen der Befindlichkeit, das heißt im Umkehrschluss, dass etwa 75 % aller Frauen prämenstruelle Symptome zumindest wahrnehmen, häufig auch darunter leiden [3]. Die körperlichen Veränderungen sind dabei nicht immer von der Dysmenorrhoe abzugrenzen, insbesondere, wenn es sich um Beschwerden im Bereich des Unterleibes handelt (Bauchschmerzen, Gefühl des Aufgeblähtseins, etc.). Nicht nur durch körperliche Symptome, sondern auch durch psychische prämenstruelle Symptome fühlen sich Frauen beeinträchtigt. Diese können in ihrer Ausprägung sehr vielfältig sein; Verstimmungszustände, Konzentrationsstörungen und vermehrte Ungeduld bzw. Gereiztheit sind häufig.

Ein erster wichtiger Schritt ist die Selbstbeobachtung der Patientin mittels Zykluskalender (€ Abb. 1), weil ihr damit Zusammenhänge mit der Menstruation, aber auch mit besonderen Belastungen, Stress etc. deutlich werden und sie selbst Möglichkeiten der Verhaltensänderung und Entlastung erkennen kann. Die kurze Instruktion dazu kann Teil der psychosomatischen Beratung sein. Bei leichteren Beschwerden sind pflanzliche Präparate (z. B. Nachtkerzenöl, Mönchspfeffer), Vitamine (z. B. Vitamin B6) oder Empfehlungen zur Änderung des Lebens- und Ernährungsstiles durchaus empfehlenswert.

Vom PMS zur PMDS (Prämenstruelle Dysphorische Störung)

Aus psychiatrischer Sicht besteht das Problem  mit  der  Diagnose  „Prämenstruelles Syndrom“ darin, dass in der Vergangenheit darunter viele verschiedene Symptome subsumiert wurden und fast jede Studie zu therapeutischen Strategien ihre eigenen Kriterien verwendete. Insofern finden sich je nach Definition PMS- Häufigkeiten zwischen 25 und 50 % [3]. Ein wichtiger Wendepunkt war im Jahr 1987 die Etablierung von Forschungskriterien in der DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen), dem Diagnosesystem der American Psychiatric Association (APA) − zunächst noch verortet in einer Kategorie für „Diagnosen, die weiterer Forschung bedürfen“. Es folgte eine intensive gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussion darüber, ob es sich tatsächlich um eine behandlungsbedürftige Störung, also um eine Krankheit handelt, oder ob damit normale Abläufe des weiblichen  Körpers  „medikalisiert“  werden. Ein wichtiger Meilenstein war im Jahr 2000 die Zulassung des Antidepressivums Fluoxetin durch die FDA (Federal Drug Administration) in den USA zur Behandlung der PMDS. Die sich schrittweise durchsetzende allgemeine Anerkennung als behandlungsbedürftige Störung führte dann 2013 schließlich zur Aufnahme der PMDS als eigenständiges Krankheitsbild mit klar definierten Kriterien in die 5. Revision der DSM (DSM-5) [4].

Aus Sicht der Autorin war die Etablierung der PMDS als eigenständiges Störungsbild richtig und notwendig, da nur damit die Aussicht besteht, dass betroffene Frauen in ihrem erheblichen Leidensdruck richtig wahr- genommen und behandelt werden.

Die typische PMDS: Dr. Jeykill und Mrs. Hide

Typisch für die PMDS ist das Auftreten verschiedener psychischer Symptome in der zweiten Zyklushälfte, oft auch nur in der Woche oder wenige Tage vor Beginn der Menstruation, die mit Eintreten der Blutung oder kurz danach wieder abklingen. Typisch sind Reizbarkeit, Anspannung und Affektlabilität mit der Tendenz zu unkontrollierten Wutausbrüchen, was häufig zu interpersonellen Konflikten führt. Am ehesten treten diese im familiären Umfeld auf, aber auch im beruflichen Umfeld oder bei anderen sozialen Kontakten (z. B. beim Umgang mit Behörden) können daraus Probleme resultieren. Im Einzelfall kommt es sogar zu fremdaggressiven  Handlungen  („Türenknallen“, tätliche Auseinandersetzungen mit dem Partner). Frauen leiden besonders darunter, wenn ihre problematischen Verhaltensweisen die Kinder betreffen, wenn sie diese ungerecht behandeln, sie anschreien oder wenn ihnen sogar „die Hand ausrutscht“. Auch prämenstruelle Depressivität mit Suizidalität kommt vor, bis hin zu Suizidversuchen.

Betroffene Frauen beschreiben sich selbst immer wieder „wie Dr. Jeykill und Mrs. Hide“. Sie berichten darüber, dass sie in dieser Zeit das Gefühl haben, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren und dass sie Verhaltensweisen zeigen, die sie normalerweise inakzeptabel finden.

Diagnosekriterien der PMDS

Die Kernsymptome der PMDS sind dem affektiven Bereich zuzuordnen; das sind im einzelnen Affektlabilität, Reizbarkeit/Wut, depressive Verstimmung und Anspannung. Außer den körperlichen Manifestationen (zusammengefasst in einem Kriterium) betreffen auch die übrigen Symptome psychische Erlebnisweisen und Ausprägungen.

Nach DSM-5 liegt eine PMDS vor, wenn sich eine deutliche Beeinflussung der beruflichen Leistungsfähig- keit oder Konflikte durch die Symptome, mit Störung sozialer und familiärer Beziehungen, feststellen las- sen (€Tab. 1).

Für die Abrechnung gemäß ICD-10 sollten  die  Ziffern  F38.8  („Sonstige nicht näher bezeichnete affektive Störungen“) in Kombination mit N94.3 („Prämenstruelle Beschwerden“) angegeben werden, solange eine eigene Diagnose „PMDS“ nicht existiert.

ICD-10 und PMDS Diagnosesicherung durch Zyklusdokumentation

Die zur Diagnosebestätigung ausdrücklich geforderte prospektive Erfassung der Symptome über zwei symptomatische Zyklen hat sich für uns auch in der Praxis bewährt, da differentialdiagnostisch infrage kommende andere Störungen (wie etwa Stimmungsinstabilität, chronische Depressionen über den gesamten Zyklus, z. B. im Rahmen einer „Borderline-Störung“, etc.)  damit gut abgrenzbar sind. Die betroffene Frau profitiert ihrerseits von der Dokumentation, da sie mithilfe des Zyklustagebuches feststellen kann, ob ihre Probleme tatsächlich einen zeitlichen Bezug zur Menstruation haben oder ob doch andere Faktoren für ihre Beschwerden verantwortlich sind. Auch für die Verlaufsdokumentation unter Behandlung ist die Führung des Zyklustagebuches unbedingt zu empfehlen.

Inzwischen gibt es verschiedene Apps, die Frauen die Dokumentation ihres Zyklus und aller damit verbundenen Symptome auf Mobilgeräten erleichtern. Für die Dokumentation einer PMDS empfehlen wir die speziell auf die o.g. Kriterien abgestimmte Download-Version einer vor langer Zeit in der Gynäkologischen Psychosomatik in Bonn entwickelten Version eines Zykluskalenders (zum Ausdruck als Papier- und Stift-Variante auf [6]; dort findet sich auch ein Informationsblatt für Betroffene zum Herunterladen.

Therapie mit Hormonen / Kontrazeptiva im Langzyklus

Zunehmend häufiger kommen beim ausgeprägten prämenstruellen Syndrom Kontrazeptiva im Langzyklus zum Einsatz, was durch die weitgehende Ausschaltung der hormonellen Schwankungen die Symptomatik verbessert [7, 8]. Bei ausgeprägter PMDS-Symptomatik kann auch eine Kombination von Kontrazeptivum und SSRI sinnvoll sein. Erfolgt eine Neueinstellung auf ein Kontrazeptivum, würde sich aus psychiatrischer Sicht ein Präparat mit hohem Östrogen-Anteil empfehlen, da Östrogene per se positive Effekte auf die Stimmungslage haben können.

Therapie mit Antidepressiva vom SSRI-Typ – kontinuierlich oder intermittierend?

Seit Einführung der Diagnosekriterien für eine PMDS wurden eine Reihe doppelblinder, placebokontrollierter Therapiestudien zur Behandlung dieser Störung durchgeführt, die alle zum Ergebnis hatten, dass Antidepressiva aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), (Fluoxetin, Citalopram, Sertralin, Paroxetin) wirksam sind [9, 10]. Darüber hinaus konnte auch für andere serotonerg wirkende Antidepressiva wie Venlafaxin (SNRI) oder Clomipramin (Trizyklikum) ein Wirksamkeitsnachweis vorgelegt werden.

Prinzipiell kann man zwei Formen der Verabreichung der SSRI unterscheiden: die kontinuierliche (über den gesamten Zyklus) und die intermittierende Gabe (nur in der zweiten Zyklushälfte). Für beide Darreichungsformen konnte in kontrollierten Studien die Wirksamkeit nachgewiesen werden, unabhängig von der Substanz; allerdings mit etwas besserer Wirksamkeit bei der kontinuierlichen Gabe.

Für den Beginn der Behandlung empfiehlt sich oft die durchgehende Gabe, da die Patientin damit zunächst einmal den Fokus ihrer Aufmerksamkeit vom Zyklusgeschehen weglenken kann. Wenn eine Beruhigung eingetreten ist, kann der Versuch der intermittierenden Gabe gemacht werden. Diese kann auch sinnvoll sein, wenn eine Verminderung der Libido eintritt, eine der typischen Nebenwirkungen eines SSRI.

In der eigenen Praxis hat sich eine Kombination beider Strategien bewährt, nämlich durchgehend eine niedrige Dosis zu geben und − falls trotzdem Symptome auftreten − in der zweiten Zyklushälfte die Dosis zu erhöhen bis zur Maximaldosis des Präparates. Die Patientin kann damit individuell auf ihre jeweilige Situation reagieren, was auch ihr subjektives Gefühl von Kontrolle wieder stärkt.

Wenn eine Medikation erfolgreich ist, kann nach einem 3/4 bis 1 Jahr ein Absetzversuch gemacht werden. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens der prämenstruellen Symptomatik hoch ist, kann eine Therapiepause vorgenommen werden, wenn sich durch den guten Therapieerfolg und vor allem die andere Bewertung der Problematik die familiäre Situation stabilisiert hat. Alle Beteiligten können die Zusammenhänge erkennen und einordnen, so dass sie besser mit den Symptomen umgehen können.

Wünscht die Betroffene keine Therapiepause, spricht aus ärztlicher Sicht nichts gegen eine längerfristige  (d. h. auch jahrelange) Einnahme eines Antidepressivums.

Dosierungsvorschläge für SSRI / Off-Label-Behandlung

Da die Gabe von Antidepressiva in der frauenärztlichen Praxis wahrscheinlich nicht zur Routine gehört, werden in Tabelle 2 einige Dosierungsvorschläge gemacht, die auf der praktischen Erfahrung der Autorin beruhen. Selbstverständlich ist in jedem Einzelfall die Frage eventueller Kontraindikationen oder Kontrolluntersuchungen zu berücksichtigen (wie etwa EKG-Kontrolle bei Frauen mit Hinweisen auf Herzerkrankungen, um eine QT-Verlängerung auszuschließen, Labor-Kontrollen, z. B. Leberwerte).

Aus Sicht der Verfasserin ist es sinnvoll, zunächst mit ein oder zwei Substanzen Erfahrungen zu machen (wie etwa Fluoxetin, falls etwas dagegen spricht, Sertralin) und mit niedrigen Dosierungen zu beginnen. Erfahrungsgemäß sind dabei die Nebenwirkungen sehr gering. Langsam können so eigene Erfahrungen mit der Verordnung dieser Substanzen gemacht werden.

Wenn die Patientin trotz der niedrigen Dosierungen sehr empfindlich reagiert, gibt es außerdem die Möglichkeiten, das Medikament in flüssiger Form Tropfen für Tropfen einzudosieren (verfügbar für Citalopram, Escitalopram, Paroxetin und Sertra- lin als Zoloft®).

Noch ein Hinweis zur „Off-Label-Behandlung“. Die meisten der hier erwähnten Medikamente sind für eine Reihe von Indikationen zugelassen: Depressionen, Angststörungen, einige auch für Zwangsstörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen – alles Störungsbilder, bei denen die einzelnen beim PMDS auftreten- den Symptome vorkommen. Allerdings gibt es − wie bereits oben erwähnt − in Deutschland kein speziell für die PMDS zugelassenes Psychopharmakon; möglicherweise wird sich das auch lange nicht ändern. Nach dem Gemeinsamen Bundesausschuss ist der Off-Label-Use, der „zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels“, grundsätzlich erlaubt [12]. Als Kassenleistung ist nach dem Gemeinsamen Bundesausschuss eine Off-label-Behandlung dann möglich, wenn „damit eine schwerwiegende … die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung behandelt wird, für die keine andere Therapie verfügbar ist und bei der aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann„; zitiert wird ein Bundessozialgerichts-Urteil [13].

Es sollte gut dokumentiert sein, dass andere Therapiestrategien nicht hilfreich waren und dass die Patientin über die Off-Label-Behandlung informiert ist (sie muss aber u. E. nicht unterschreiben, dass sie das auf eigene Verantwortung einnimmt).

Wenn Sie sich trotz allem nicht dazu entschließen können, eine Patientin mit einem Antidepressivum zu behandeln, bleibt noch die Möglichkeit, sie mit den entsprechenden Empfehlungen zu ihrem Hausarzt zu schicken, der sehr viel häufiger solche Präparate einsetzt – viele Patienten mit Depressionen werden ausschließlich vom Hausarzt behandelt. Die Behandlung können Sie trotzdem begleiten, den Effekt beobachten und vielleicht dann beim nächsten Mal selbst die Verordnung vornehmen.

Sind Psychotherapie und Entspannungsverfahren sinnvoll?

Für die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) konnten durch randomisierte kontrollierte Studien gute Effekte für die milderen Varianten des PMS nachgewiesen werden [14]; besonders die Kombination von KVT und SSRI erwies sich als wirkungsvoll [15].

Bei der KVT werden vor allem Gedanken, Denkmuster und Überzeugungen im Zusammenhang mit Gefühlen und daraus resultierendem Verhalten überprüft und verändert. Der Umgang mit Konflikten in der Familie kann zusätzlich in der Psychotherapie systematisch eingeübt werden. Gerade bei solchen Maßnahmen ist die Einbeziehung des Partners hilfreich, da sich oft durch die bereits jahrelange Symptomatik die Konflikte chronifiziert und verhärtet haben und beide Partner von einer Neubewertung profitieren.

Das Erlernen von Entspannungstechniken (Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training, Yoga) kann Frauen im Umgang mit einem ausgeprägten PMS bzw. PMDS unterstützen – auch wenn die Kernsymptomatik Reizbarkeit, Affektlabilität etc. damit meist kaum beeinflusst wird.

Letzten Endes ist schon die Zyklusbeobachtung und -dokumentation mittels Zyklustagebuch als Verhaltensbeobachtung und damit erster Schritt der Verhaltenstherapie zu werten, denn dadurch lernen betroffene Frauen, den Einfluss von Stress und sonstigen Faktoren zu erkennen.

Antworten auf typische Fragen von Patientinnen

Auch oder gerade wenn Patientinnen sich selbst vorher informiert haben, treten immer wieder Fragen auf, die am ehesten mit dem Verlauf bzw. der Prognose und der Medikation zu tun haben. In  Tabelle 3 (S. 35) sind zahlreiche typische Fragen zusammengestellt und beantwortet, die Frauen nach unserer praktischen Erfahrung stellen.

Fazit für die Praxis

  • Bei der Prämenstruellen Dysphorischen Störung (PMDS) als schwerster Form des PMS stehen psychische Symptome wie Reizbarkeit, Wut, Anspannung, Stimmungslabilität, Depressivität und die daraus resultierenden interpersonellen Konflikte im Vordergrund. Frauen mit PMDS haben oftmals einen erheblichen Leidensdruck, insbesondere durch die Auswirkungen im familiären Bereich.
  • Auch wenn der Einsatz dieser Medikamente nicht zu den Kernkompetenzen in der Frauenarztpraxis gehört, spricht aus Sicht der Verfasserin nichts dagegen, wenn Gynäkologinnen und Gynäkologen bei einer durch Zyklusdokumentation gesicherten PMDS Antidepressiva vom SSRI- Typ einsetzen. Diese sind i. d. R. gut verträglich, vor allem wenn mit niedrigen Dosierungen be- gonnen wird. Den Frauen kann damit eine Behandlungsoption an die Hand gegeben werden, die ihnen das Gefühl der Kontrolle auch in den prämenstruellen Tagen zurückgibt.
  • Nach den eigenen Erfahrungen der Autorin gehört die Behandlung einer PMDS zu den einfach durchzuführenden und in der überwiegenden Zahl der Fälle rasch erfolgreichen Therapien, die auch die eine oder andere Ehe bzw. Beziehung retten kann.

Zusammenfassung

Zyklusabhängige Beschwerden körperlicher Art bzw. Beschwerdekomplexe, die als Prämenstruelles Syndrom (PMS) zusammengefasst werden können, sind häufige Beratungsanlässe in der Frauenarztpraxis; auch entsprechende Behandlungsstrategien gehören zur alltäglichen Praxis. Schwierig kann es werden, wenn die psychische Symptomatik mit ausgeprägten affektiven Symptomen
(z. B. Gereiztheit, Wut, Anspannung, Stimmungslabilität, Depressivität) im Vordergrund steht. In Abgrenzung vom „klassischen“ PMS kann man die Prämenstruelle Dysphorische Störung (PMDS) als die schwerste Form eines PMS bezeichnen, bei der zudem die ausgeprägten psychischen Beschwerden im Vordergrund stehen und den Leidensdruck bestimmen.

Zahlreiche kontrollierte Studien konnten die Effektivität der Behandlung mit Antidepressiva vom SSRI-Typ zeigen, sowohl für die kontinuierliche Gabe über den gesamten Zyklus als auch intermittierend (nur in der zweiten Zyklushälfte). Die Gabe von SSRI ist sinnvoll,wenn andere Therapiestrategien (wie etwa ein Kontrazeptivum im Langzyklus) nicht effektiv oder kontraindiziert sind.
Im vorliegenden Artikel werden neben den diagnostischen Kriterien der PMDS ausführliche Hinweise zur Behandlung mit Antidepressiva vom SSRI-Typ sowie Antworten auf häufige bzw. typische Fragen von Patientinnen gegeben.

Schlüsselwörter: PMS, PMDS, Antidepressiva, SSRI, Zyklustagebuch

* Enthält Auszüge aus dem Buch „Psychosomatik in der Gynäkologie. Kompaktes Wissen – Konkretes Handeln“ vonARohde,AHocke,ADorn (2017). Mit freundlicher Genehmigung des
Schattauer-Verlages.

Literatur unter: https://medizin.mgo-fachverlage.de/gynaekologie/gyne.html

Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Anke Rohde
FÄ f. Psychiatrie u. Psychotherapie
Gynäkologische Psychosomatik
Universitätsfrauenklinik Bonn
53105 Bonn
anke.rohde@ukbonn.de

Slide PMS und PMDS – Behandlungsmöglichkeiten in der Frauenarztpraxis, wenn die psychischen Symptome im Vordergrund stehen Gyne 02/2019

Gyne 01/2019 – Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch – (wie) geht das in meiner Praxis?

Gyne 01/2019

Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch – (wie) geht das in meiner Praxis? 

Autorinnen: Jana Maeffert, Christiane Tennhardt

Einleitung

Ungeplante Schwangerschaften gehören zur Lebensrealität von Frauen, Paaren und damit auch ihrer Gynäkologen und Gynäkologinnen. Etwa die Hälfte aller jemals schwangeren Frauen werden mindestens einmal in ihrem Leben unbeabsichtigt schwanger, etwa ein Drittel davon ungewollt [1].

In Deutschland entscheiden sich im Jahr etwa 100.000 Frauen pro Jahr zu einem Schwangerschaftsabbruch (SAB) [2]. Damit gehört der SAB in der BRD zu den häufigen gynäkologischen              Fragestellung. Auf 1.000 Frauen im fertilen Alter kommen etwa 5–6 SAB, auf 8 Geburten ein SAB [2] Damit liegt Deutschland im unteren europäischen Bereich. In den letzten 15 Jahren ist die Zahl der Einrichtungen und Praxen, die einen SAB durchführen, von etwa 2.000 auf etwa 1.200 zurückgegangen, das entspricht einem Rückgang um 40 %.

Ein SAB gehört zu den „kritischen Lebensereignissen“ und es wurde in großen Studien untersucht, wann er sich negativ auf die seelische Gesundheit der Frau auswirkt [3, 4, 5, 6]. Risiken für langfristige Probleme sind: äußerer Druck, der eine freie Entscheidung der Frau verhindert, moralische Verurteilung durch die Umgebung, Zwang zu Verheimlichung, fehlende Unterstützung durch nahestehende Menschen und eine schlechte Behandlung durch Beraterinnen und medizinisches Personal.

Für die Verarbeitung eines SAB ist neben der Art der Betreuung auch die Wahlfreiheit der Methode wichtig [7]. Unsere Erfahrung zeigt, dass es für Frauen entlastend ist, wenn der SAB von der Gynäkolog*in durchgeführt wird, zu der sie schon jahrelang Vertrauen hat. Das ist u. a. möglich durch den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch (mSAB), den jede gynäkologische Praxis anbieten kann. Allerdings scheitert ein breiteres Angebot bislang oft an fehlendem Wissen bzw. dem befürchteten Aufwand.

  • Frauen mit reiner PMDS (ohne sonstige psychiatrische Erkrankung) gehören auch nicht zur typischen Klientel von Psychiatern
  • Nach der bisher gültigen ICD-10- Klassifikation, in der es keine Diagnosekategorie PMDS gibt (in der ICD-11 wird sich das voraussichtlich ändern) lässt sich die PMDS nicht eindeutig klassifizieren, und vor diesem Hintergrund kann die Gabe von Antidepressiva in solchen Fällen auch für Psychiater eine Off-label-Behandlung sein (was aber ja nicht gegen deren Einsatz spricht)
  • Aufgrund der mehr oder weniger regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen besteht in der Frauenarztpraxis eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Frauen dieses „zyklusabhängige“ Thema irgend- wann ansprechen und Hilfe erwarten.

Die aktuelle Situation in Deutschland

Im Jahr 1999 wurde in der Bundesrepublik der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch (mSAB) mit Mifepriston und Misoprostol neben der operativen Methode (opSAB) zugelassen. Seitdem steigt der Anteil der mSAB nur sehr langsam. Im Bundesdurchschnitt liegt er aktuell bei ca. 20 %, mit sehr großen regionalen Unterschieden (Berlin ca. 30 %, Bremen ca. 3 %). Zum Vergleich: Im Nachbarland Schweiz (Zulassung ebenfalls 1999) liegt er bei ca. 65 %, in Schweden bei ca. 80 %.

Der mSAB ist eine international anerkannte, sichere und wirksame Methode, die in Deutschland bis zum Ende der 9. SSW zugelassen ist. Seit 2015 ist auch der sogenannte „Home-use“, bei dem die Blutungsinduktion zu Hause erfolgt, von der DGGG als sicher und empfehlenswert eingestuft worden [8]. Dass diese Methode von den meisten Frauen bevorzugt wird, ist durch mehrere internationale Studien belegt [9].

Die Erfahrungen von Blutung und Schmerz beim mSAB entsprechen in etwa denen bei einem spontanen Frühabort. Die Beschwerden werden von den meisten Frauen zu Hause gut toleriert, insbesondere wenn sie eine prophylaktische Gabe von Analgetika und Antiemetika erhalten.

Die Zahl der Praxen in Deutschland, die den SAB in ihrem Leistungsspektrum haben, geht zurück. Die Gründe dafür lassen sich nur vermuten und sicher spielt es neben der eigenen moralischen Einstellung, der gesellschaftlichen Bewertung und Akzeptanz des SAB eine erhebliche Rolle, wie viel Aufwand es bedeutet, diese Methode in der eigenen Praxis anzubieten.

Außerdem steht der SAB im Strafgesetzbuch und ist nur straffrei, wenn gewisse Vorgaben eingehalten werden. Dies lässt eine gefühlte Bedrohungssituation entstehen, insbesondere, da in den letzten Jahren die Anzeigen gegen Ärzt*innen wegen Verstößen gegen den § 219a („Werbungsparagraphen“) durch Einzelpersonen zugenommen haben.

Besonders im ländlichen Bereich bedeutet dieser Rückgang, dass betroffene Frauen lange Wege zurücklegen müssen und dass insbesondere in Bezug auf die Ärztin oder den Arzt in und Methode keine Wahlmöglichkeit besteht. Für etwa 80 % der Frauen ist es aber sehr wichtig, die Methode wählen zu können und 50–70 % würden sich für den medikamentösen SAB entscheiden – wenn sie die Wahl hätten [7].

Psychische Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs

Die psychisch schwierigste Phase des SAB ist die Zeit vor der Durchführung. Eine ungeplante Schwangerschaft stellt für jede Frau eine Ausnahmesituation dar. Es stürmen Gedanken, Gefühle und Fragen auf sie ein und brauchen Klärung. Die erste Informationsquelle ist für die meist jungen Frauen das Internet. Gerade hier findet sich aber eine Fülle von Fehlinformationen, die die Frauen eher belasten und verunsichern können.

Aufgrund der befürchteten moralischen Bewertung wird der Konflikt weniger mit Freundinnen, Familie und dem Partner geteilt als bei anderen Problemen. Daher bekommt der oder die behandelnde Gynäkolog*in eine wichtige Rolle als Vertrauensperson, der die Schwangerschaft bestätigt und das Wissen besitzt, wie ein Abbruch abläuft.

Nach unserer Erfahrung ist es sehr entlastend für Frauen, wenn der SAB von der bzw. dem vertrauten Gynäkolog*in durchgeführt wird, der eventuell schon vorherige gewünschte Schwangerschaften betreut oder sie in anderen Situationen begleitet hat. Ein „Wegschicken“ zu einer anderen Ärztin oder einem anderen Arzt bedeutet neben dem Zeitverlust häufig eine Stigmatisierung und einen möglichen Vertrauensbruch. Es signalisiert entweder eine moralische Missbilligung oder aber eine fehlende fachliche Kompetenz und impliziert damit eine gewisse Gefährlichkeit oder Kompliziertheit. Auch wenn die Frauenärzt*in einen Schwangerschaftsabbruch moralisch ablehnt, muss sie die Patientin neutral und professionell beraten und empathisch begleiten. Wir erleben immer wieder, dass Frauen nicht möchten, dass ihre vertraute Frauenärztin oder ihr vertraute Arzt vom SAB erfährt oder dass sie nach dem Eingriff die Praxis wechseln, weil sie sich in ihrer Notsituation nicht angenommen gefühlt haben.

Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass die stärkste psychische Belastung durch die moralische Bewertung von Dritten ausgelöst wird [10]. Dazu gehören neben Verwandten und Freunden auch die
Versuche der Anti-Choice-Bewegung, Einfluss auf betroffene Frauen zu nehmen. Es ist äußerst belastend, wenn sie z. B. Gehsteigbelästigungen vor den Konfliktberatungsstellen mit Bildern von Föten
oder Kreuzen ausgesetzt werden. Die gesetzlichen Vorgaben beinhalten Fristen und das Aufsuchen von unterschiedlichen Stellen. Dadurch müssen mehrere Termine vereinbart werden, dies kann durch lange Wege und eingeschränkte Öffnungszeiten einen enormen Zeitverlust bedeuten. Ein SAB ist aber kein elektiver Eingriff, der warten kann.

Es erhöht die Belastung zusätzlich, wenn neben der Beratungsstelle auch noch eine weitere gynäkologische Praxis gesucht werden muss, die den SAB durchführt. Dort trifft die betroffene Frau wieder auf eine neue Person, der ihre Geschichte erzählt werden muss.

Der Zeitverlust kann bedeuten, dass die medikamentöse Methode nicht mehr gewählt werden kann. Viele Praxen haben nur einen Tag, an dem sie operative Eingriffe vornehmen und einige Ärzt*innen operieren nur bis zu einem bestimmten Schwangerschaftsalter. Schlimmstenfalls kommt es dadurch zum Versäumen der Frist von 13+6 SSW (p.m.). Viele Frauen haben bis zum SAB große Angst, dass dies passieren könnte und stehen dadurch zusätzlich unter Stress.

Eine große amerikanische Studie hat gezeigt, dass Frauen, denen ein SAB aufgrund des fortgeschrittenen Schwangerschaftsalters verweigert wurde und die dadurch die Schwangerschaft austragen mussten, ein hohes Risiko hatten, psychische Probleme zu bekommen. Dagegen zeigten die Frauen, bei denen der SAB durchgeführt wurde, kein erhöhtes Risiko und 95 % hielten auch nach 5 Jahren ihre Entscheidung für richtig [11].

Die Vorstellung, ein „Schwermachen“ des SAB und eine verpflichtende Bedenkzeit könnte eine Frau dazu bewegen, die Schwangerschaft auszutragen, offenbart die Annahme, Frauen seien zu einer
verantwortungsvollen Entscheidung nicht allein fähig.

Moralische oder rechtliche Sanktionen verhindern keinen Schwangerschaftsabbruch, sie beeinflussen aber in hohem Maße die Bedingungen, unter denen Frauen, Männer und Ärzt*innen mit dieser Situation umgehen können.

Leitfaden: „Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch in der gynäkologischen Praxis“

Es gibt viele Fragen, Hürden und Mythen, die dazu führenas,sdGynäkolog*innen, die den mSAB in ihrer Praxis anbieten möchten, vor der Aufnahme in ihr Leistungsangebot zurückschrecken. Schon allein die Abrechnung über die Kostenübernahme, die Bestellung von Mifegyne® oder die Unklarheit über den Paragraphen § 219a können dafür verantwortlich sein, dass sie ihre Patientinnen lieber zu Kolleg*innen schicken, anstatt ihnen in der Situation der ungewollten Schwangerschaft ärztlich beiseite zu stehen.

Dies hat uns als Gruppe Berliner Gynäkologinnen dazu gebracht, einen Leitfaden zum mSAB zu schreiben. Das Handbuch soll den niedergelassenen Ärzt*innen die Aufnahme des mSAB in das Leistungsangebot erleichtern. Sehr praxisnah und ausführlich werden medizinische, rechtliche und organisatorische Aspekte erläutert. Außerdem werden Komplikationen, besondere Situationen, Kontraindikationen und der genaue Ablauf behandelt. Im Anhang finden sich hilfreiche Dokumente wie Aufklärungen, Checklisten und weiterführende Links. Im Folgenden finden Sie eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Informationen aus dem Leitfaden.

Welche Bedingungen gibt es für die Praxis?

Einige gesetzliche  Grundlagen
Die gesetzlichen Grundlagen sind im Strafgesetzbuch unter den Paragraphen §§ 218/219 geregelt und unterscheiden sich für den mSAB nicht zum opSAB [12]. Lediglich die Zulassung gilt für den mSAB in Deutschland nur bis zum Ende der 9. SSW. In anderen europäischen Ländern ist Mifepriston auch für ein späteres Schwangerschaftsalter zugelassen.

Etwa 96 % aller Fälle finden nach der Beratungsregelung statt, daher soll in diesem Artikel nicht auf die Besonderheiten der kriminologischen und medizinischen Indikation eingegangen werden.

Vor der Durchführung eines mSAB sind für die behandelnde Ärzt*in drei Bedingungen einzuhalten:

  1. Vorliegen eines Beratungsscheins einer staatlich anerkannten Konfliktberatungsstelle
  2. Einhalten der 3-tägigen Bedenkzeit zwischen Beratung und SAB
  3. Das Beratungsgespräch und der SAB dürfen nicht in der gleichen Einrichtung/Praxis stattfinden

In vielen Bundesländern gibt es keine Bedingungen für die Durchführung des mSAB und es reicht die Facharztprüfung für Gynäkologie und Geburtshilfe. Die Bestimmungen für die einzelnen Bundesländer und der Bestellungsweg können bei der Firma NORDIC, die Mifegyne® vertreibt, erfragt werden. Dort muss sich die Praxis registrieren lassen.

Die Methode des mSAB
Zunächst wird das Antigestagen Mifepriston (Mifegyne®) eingenommen. Die Einnahme erfolgt unter ärztlicher Aufsicht.
In der Zulassung von Mifegyne® ist die Gabe von 600 mg (im Handel sind 3 Tabletten à 200 mg oder 1 Tablette à 600 mg) vorgeschrieben. Weltweit – auch von der WHO empfohlen – hat sich die 200 mgDosis (1 Tablette à 200 mg) durchgesetzt. Internationale Studien haben keine Unterlegenheit in der niedrigeren Dosierung gefunden [13]. Auch die DGGG hat die Option von 600 mg bzw. 200 mg den durchführenden Ärzten überlassen [8].

24–48 Stunden nach Einnahme erfolgt die Blutungsinduktion mit einem Prostaglandin. Auch hier gibt es unterschiedliche Behandlungsschemata. International hat sich die vaginale oder buccale Anwendung von Misoprostol (Cytotec®, MisoOne®) in einer Dosierung von 400–800 mg je nach Schwangerschaftsalter bewährt. Eine präventive Gabe von Antiemetika und Analgetika wird empfohlen.

1–2 Wochen nach der Blutungsinduktion sollte eine Ultraschalluntersuchung zur Bestätigung der erfolgreichen Beendigung der Schwangerschaft erfolgen.

Für die Durchführung des mSAB ist es nicht erforderlich, dass eine Fruchthöhle mit Dottersack gesehen wird. Auch nach der Bestätigung einer Schwangerschaft allein durch HCG im Urin kann der mSAB durchgeführt werden. Da Mifepriston eine Extrauteringravidität nicht beendet, bedarf es einer genauen Aufklärung der Frau mit besonderer Wichtigkeit der Kontrolluntersuchung. In diesen Fällen muss zum Zeitpunkt der Mifegyne®-Einnahme der Serum HCG-Spiegel bestimmt und nach etwa 5 Tagen kontrolliert werden. Der Abfall des Serum-HCG schließt die EUG aus und bestätigt die erfolgreiche Durchführung des mSAB. Analog zum opSAB und Frühaborten wird nach deutschen Richtlinien eine Rhesusprophylaxe durchgeführt.

In internationalen Leitlinien wird eine prophylaktische Gabe von Antibiotika empfohlen. Für Deutschland gibt es keine Daten über die Häufigkeit von infektiösen Komplikationen. Nach der „screen-andtreat“-Methode sollte durch die vaginale pH-Messung und ein Nativpräparat eine bakterielle Vaginose ausgeschlossen bzw. behandelt werden. Außerdem sollte ein Chlamydientest angeboten werden, der – wie bei allen schwangeren Frauen – von den Krankenkassen übernommen wird.

Kontrazeption nach  dem mSAB
Es sollte möglichst keine Frau ohne Beratung über eine weitere Verhütung aus der Praxis gehen.

Eine gewünschte hormonelle Verhütung, auch der Vaginalring, kann am Tag der Misoprostol-Gabe, bzw. innerhalb von 48 Stunden beginnen. Die Einlage eines IUD kann bei komplikationslosem Verlauf bei der Nachuntersuchung oder bei der ersten Menstruation nach dem mSAB erfolgen.

Abrechnung
Ein SAB nach der Beratungsregelung ist keine Leistung der Krankenkassen. Es werden aber Kosten wie Feststellung des Schwangerschaftsalters, Bestimmung der Blutgruppe, Chlamydientest, Maßnahmen zur Behandlung von Komplikationen u.a. übernommen. Sie können wie üblich als Leistungsziffern gegenüber der KV abgerechnet werden. Der Großteil der Kosten wird als Selbstzahlerleistung oder über eine Kostenübernahme abgerechnet. Frauen, die in Deutschland gemeldet sind und über ein geringes Einkommen verfügen, können eine Kostenübernahme vor der Durchführung des SAB bei der jeweiligen Krankenkasse beantragen.

§ 219a
Seit November 2017 ist der § 219a als „Werbungsparagraph“ durch die Verurteilung einer Giesener Ärztin verstärkt in Medien und Öffentlichkeit diskutiert worden. Eine Streichung bzw. Neuregelung wird derzeit im Bundestag verhandelt. Der bei Redaktionsschluss vorliegende Gesetzesentwurf sieht vor, dass zumindest darüber informiert werden darf, dass in der Praxis SAB durchgeführt werden. Bis dato verbietet § 219a eine direkte Information z. B. auf der Homepage, dass in der Praxis SAB durchgeführt werden. Dieses Verbot gicihlttnfür die Information von Kolleg*innen (Zuweiser*innen),  Beratungsstellen oder für die Veröffentlichung in Fachinformationen. In einigen Bundesländern (z.B. Berlin, Hamburg) gibt es Listen der anbietenden Praxen, die vom Senat öffentlich im Internet zugänglich gemacht werden.

Bedingungen für die Ausstattung in der Praxis
Wenn der mSAB nur im „Homeuse“ angeboten wird, gibt es keine besonderen Bedingungen. Es muss dabei aber gewährleistet sein, dass am Tag der Blutungsinduktion zu Hause eine erwachsene Person zugegen ist. Bei Sprachbarrieren, sehr ängstlichen Patientinnen oder eingeschränkter Compliance empfiehlt sich die Blutungsinduktion in der Praxis. In diesem Fall ist es ideal, einen kleinen, abgetrennten Raum mit einer Liege und einer Sitzgelegenheit anzubieten. Die meisten Frauen bevorzugen aber für das Abbluten die vertraute Umgebung zuhause. Der mSAB, insbesondere im „Home-use“ liegt stärker in der Hand der Frau als der opSAB. Für viele Frauen bedeutet dies, dass sie dadurch die Kontrolle über das behalten, was passiert und erleben dies als positiv. Andere Frauen bevorzugen gerade die Abgabe der Kontrolle und Verantwortung an medizinisches Personal beim opSAB. In jedem Fall werden Blutung und meistens auch Schmerzen beim mSAB stärker erlebt als bei der operativen Methode. Darüber muss die Patientin sachlich aufgeklärt werden, damit sie selbst entscheiden kann, welche Methode für sie die richtige ist.

Wie auch beim ambulanten Operieren üblich sollte es die Möglichkeit der telefonischen Erreichbarkeit während und außerhalb der Praxisöffnungszeiten geben. Viele Praxen nutzen dafür ein eigenes Notfalltelefon, dass von einer erfahrenen MFA oder der Ärzt*in selbst bedient wird. In der Regel sind bei guter Aufklärung Anrufe eher selten.

Muss die Möglichkeit zur OP bestehen?
Um den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch in der Praxis durchzuführen, muss in der Regel keine Zulassung zum ambulanten Operieren bestehen. Einige Bundesländer bestehen darauf, u.a. Bayern. Die Kooperation mit einer Klinik, die Patientinnen mit Komplikationen empfohlen werden kann, ist von Vorteil. Die Notwendigkeit eines operativen Eingriffs ist selten.

Berufshaftpflicht
Die Berufshaftpflichtversicherung muss informiert werden, wenn der mSAB in das Leistungsangebot aufgenommen wird.

Da Cytotec® im „off-label-use“ verwendet wird und auch die Dosierung von 200 mg Mifepriston als „off-label-use“ gilt sollte dies angegeben werden. Beide Medikamente sind im „off-label-use“ in Fachkreisen in dieser Dosierung und Gebrauch anerkannt. Uns sind keine Erhöhungen der Versicherungsbeiträge durch das Aufnehmen des mSAB bekannt.

Mit MisoOne® gibt es seit 2018 auch ein zugelassenes Misoprostol-Präparat, so dass der mSAB mit 600 mg Mifegyne® und MisoOne® auch zulassungskonform durchgeführt werden kann. Allerdings gilt die Zulassung für MisoOne® nur bis zum 49. Tag p.m. und nur für die orale Anwendung.

Die App “Medabb”

Zusätzlich zum Leitfaden wurde die App „Medabb“ entwickelt. Sie soll Frauen helfen, die Methode im „Home-use“ richtig anzuwenden, Sicherheit während des Prozesses vermitteln und adäquates Verhalten während der Durchführung unterstützen. Sie kann kostenlos heruntergeladen werden und hat drei Funktionen.

  1. Es werden zu definierten Zeitpunkten erklärende und beruhigende Nachrichten geschickt. Diese Nachrichten sind mit einer freundlichen Figur illustriert und sollen immer wieder vermitteln „alles läuft ganz normal“.
  2. Die App hält eine umfangreiche FAQ Liste parat.
  3. Über einen Notfallbutton wird eine Verbindung zu der Telefonnummer aufgebaut, die beim Download als Notfallnummer eingegeben wurde.

Eine Evaluation, die im Frühjahr 2018 in 5 verschiedenen Praxen durchgeführt wurde ergab, dass alle Frauen die App als hilfreich empfunden und gut benotet haben. Unsere Erfahrung zeigt, dass insbesondere jüngere Frauen und Frauen mit Sprachbarrieren von der App profitieren. Sie kann Sicherheit vermitteln, ohne dass die Hürde eines Anrufs überwunden werden muss.

Die App kann im GooglePlayStore (Android) und im AppStore (iOS) kostenlos heruntergeladen werden. Es kann zwischen 6 Sprachen gewählt werden (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Polnisch).

Schlussbemerkung

Kaum eine Frau entscheidet sich leichtfertig für einen Schwangerschaftsabbruch. Mehr als die Hälfte der Betroffenen sind bereits Mütter und wissen, was die Verantwortung für ein Kind bedeutet. Die Entscheidung zum Fortführen oder Abbrechen einer ungeplanten Schwangerschaft wird nach einem verantwortungsvollen Abwägen der potenziellen Konsequenzen getroffen. Die Einschätzung derer kann nur die betroffene Frau vornehmen. Wir sollten diese Patientinnen genauso empathisch, respektvoll und fachlich kompetent begleiten wie die, die ihre Schwangerschaft austragen.

Literatur:

  1. BZgA “frauen leben“ 3. Online unter www.forschung.sexualaufklaerung.de
  2. Statistisches Bundesamt.Schwangerschaftsabbrüche. Online unter www.destatis.de
  3. TFMHA. American Psychological Association, Report of the Task Force on Mental Health and Abortion. Washington DC: American Psychological Association 2008
  4. AMRC. Academy of Medical Royal Colleges. Induced abortion and mental health:a systematic review of the mental health outcomes of induces abortion, including their prevalence and associated factors. London: Academy of Medical Royal Colleges 2011; 18−19;58−60
  5. Munk-Olsen et al. Induced First-Trimester abortion and Risk of Mental Disorder. N Engl J Med 2011; 364:332−339
  6. Vignetta C.E. et al. Abortion and longterm mental health otucomes : a systematic review of the evidence. Contraception 78(2008)436-450 7) Howie FL, Henshaw RC, Naji SA, Russell IT, Templeton AA. Medical abortion or vacuum aspiration?Two year follow up of a patient preference trial. Br J Obstet Gynaecol. 1997 Jul;104(7):829−33.
  7. 218. Stellungnahme DGGG vom 9.6.2015
  8. Hemmerling A, Siedentopf F, Kentenich H. Emotional impact and acceptability of medical abortion with mifepristone: a German experience. J Psychosom Obstet Gynaecol 2005; 26(1): 23–31.
  9. Foster D.Effect of abortion protesters on women´s emotional response to abortion. Contraception 87 (2013) 81−87
  10. Turnaway study. Foster et al. Www.ansirh. org/research/turnaway
  11. Originaltext §§218/219 dejure.org/gesetze/StGB/218.html
  12. Kulier R,Kapp N,Gülmezoglu AM,Hofmeyr GJ,Cheng L, Campana A. Medical methods for first trimester abortion. Cochrane Database of Systematic Reviews 2011, Issue 11. Art. No.: CD002855.

Korrespondenzadressen:

Dr. med. Jana Maeffert
Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
mig-zentrum Berlin
Schloßstraße 28
12163 Berlin
Tel.: +49 (0)30/7908600
janamaeffert@web.de und

Dr. med. Christiane Tennhardt
Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Gemeinschaftspraxis Frauenärztinnen Köpenick
Mahlsdorfer Str.106/107
12555 Berlin
Tel: +49 (0)30/ 6572969
info@praxis-tennhardt.de

(Ansprechpartnerin zu Fragen und zur Bestellung des Leitfadens „Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch in der gynäkologischen Praxis“)

Slide Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch - (wie) geht das in meiner Praxis? Gyne 01/2019

Gyne 08/2018 – Die ältere Patientin in der gynäkologischen Sprechstunde – das Potenzial nutzen!

Gyne 08/2018

Die ältere Patientin in der gynäkologischen Sprechstunde – das Potenzial nutzen!

Autorin: Annegret Gutzmann

 

Einleitung

Mit der älter werdenden Gesellschaft wird auch die Klientel in der gynäkologischen Praxis älter. Nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Ansprüche der älteren Frau an die Lebensqualität sind gestiegen. Die sogenannten „jungen Alten“ zwischen dem 65. und 75. Lebensjahr sind heute aktiver, mobiler und ökonomisch unabhängiger als jede vergleichbare Altersgruppe zuvor. Dennoch ist gleichzeitig eine tiefe Verunsicherung wegen widersprüchlicher Rollenerwartungen und Rollenbilder gewachsen. Diese bewegen sich zwischen „forever-young“ und der sowohl empfundenen als auch realen gesellschaftlichen Marginalisierung und Entwertung, je älter die Frau wird.

Bedeutung des „Älterseins“

Zunächst sollte jedoch die Frage geklärt werden, wann eine Frau denn zu den älteren Frauen zählt? Würden ausschließlich ältere Frauen selbst befragt, kämen sehr unterschiedliche Antworten heraus, die das  „Ältersein“  irgendwo  in  einer Zeitspanne zwischen dem 65. und dem 85. Lebensjahr verorten [1]. In der Logik bedeutet dies, dass andere Faktoren als die Lebensjahre die Zuordnung zur älteren Frau bestimmen. Sozioökonomische Bedingungen (Bildung, Beruf, Lebensweise), die genetische Konstitution, der emotionale Umgang mit Problemen, Copingstrategien, chronische Er- krankungen, die Exposition mit Noxen (Tabak, Alkohol, Umwelteinflüsse) sind die Determinanten für die unterschiedliche Alternserfahrung und für das biologische Altern [2]. Die Lebensphase „Alter“ als Übergang, als kritische Phase mit all ihren Implikationen, krisenhaft und chancenreich in der Gestaltung, findet in der wissenschaftlichen Betrachtung lediglich im geriatrischen Kontext ausreichend Beachtung. Auch in der gynäkologischen Psychosomatik ist die ältere Frau – im Gegensatz zu allen anderen vorausgehenden Lebensphasen – selten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung – trotz der Tatsache, dass entsprechend der allgemeinen Alterspyramide unserer Gesellschaft der Anteil älterer Frauen bei der gynäkologischen Konsultation kontinuierlich größer wird.

Alltägliche Realität in der Praxis

Wie sieht denn die alltägliche Realität mit älteren Frauen in der Praxis aus? Was führt sie zu einer gynäkologischen Untersuchung? Hat sich ihre Erwartung an den/die Gynäkologen/in im Laufe ihres Lebens verändert? Welche speziellen Kenntnisse und Umgangsformen muss sich der/die Gynäkologe/in in der Behandlung älterer Frauen aneignen? Trotz der hohen Relevanz der Fragen gibt es keine validen Studien zu den oben aufgeworfenen Fragen. Daher bezieht sich die Autorin in der folgenden Ausführung auf zwei eigene Erhebungen, die erstmalig 2008 und dann im Abstand vor acht Jahren erneut 2016 bei über 70-jährigen Patientinnen durchgeführt wurden [3]. Vorweggenommen sei gesagt, dass es trotz der großen Zeitspanne zwischen beiden Erhebungen keine signifikante Abweichung gab.

Die Basisdaten der Erhebungen

Befragt wurden 100 Patientinnen einer mittelgroßen gynäkologischen Praxis (5.700 Patientinnenkontakte im Jahr der Erhebung) in einer Großstadt. 725 von diesen waren älter als 70 Jahre (12,7 %). Über einen Zeitraum von 10 Wochen wurden anonymisierte semistrukturierte Fragebögen zu Gesundheitsverhalten, Motivation für die gynäkologische Konsultation und Erwartungen an den/die Gynäkologen/in ausgegeben. Nach 100 rückläufigen Bögen wurde ausgewertet. 74 % der Frauen waren 15 Jahre und länger Patientinnen der Praxis, von diesen kamen 62 % jährlich zur Untersuchung, 58 % hatten dabei eine Anreise von mehr als drei Kilometern. Die Auswertung erfolgte nach vier Clustern:

  1. Wertschätzung und Kommunikation
  2. Resilienz Salutogenese
  3. Körperlichkeit Sexualität
  4. Wunsch an Praxisausstattung Organisation

Ergebnisse

Cluster 1

Für die meisten Patientinnen spielte es eine große Rolle, die Ärztin schon lange zu kennen (85 %). Die vielen Jahre haben die Möglichkeit geboten, eine belastbare und überprüfte Beziehung aufzubauen. Das Vertrauen (in eine gute Behandlung, in einen respektvollen Umgang, in die Professionalität der Ärztin, in das Wiedererkanntwerden mit der eigenen Geschichte) als Grundlage der Beziehung muss nicht wechselseitig bei jedem Kontakt neu errungen werden, es ist als Erfahrung gewachsen. In diesen gemeinsamen Jahren ist auch die Gynäkologin für die Patientin in ihren Einstellungen und Haltungen transparent geworden.

Die Fragen, ob für die Patientin persönliche Anteilnahme und Wertschätzung seitens der Gynäkologin mit den Jahren wichtiger geworden sind, beantworteten 70 % mit sehr wichtig und wichtig (bei einer 6-stufigen Skalierung von sehr wichtig bis gar nicht wichtig). Die frei formulierten, exemplarisch aufgeführten Antworten der Erhebung zu den wichtigsten Gründen für die regelmäßige gynäkologische Konsultation, zeigen diesen Wunsch und das Bedürfnis nach Wertschätzung deutlich („menschliche  Unterstützung  und offenes, ehrliches Gespräch; symbolisch hilft es mir, ein altes Weib zu werden; Hilfe durch den Medizindschungel; weil sie an mir und meinem Leben persönlich interessiert ist; die moralische Unterstützung, weil das Leben schwieriger wird“). Wertschätzung von außen steigert das Selbstwertgefühl innen. Eine in dieser Form vertraute und vertrauensvolle Beziehung gestattet einen viel direkteren, auch ehrlicheren Blick in die sozialen Ressourcen und Bewältigungspotenziale, die einer Patientin in Krisensituationen zur Verfügung stehen. Ihre Krankheitskonnotationen z. B. zu einer Krebserkrankung werden durch die Kenntnis ihrer Lebensgeschichte (was mehr ist als die Sozialanamnese!) nachvollziehbar – und erleichtern es, ihre Therapie-Präferenzen zu respektieren und zu verstehen.

Cluster 2

Die Auswertung des 2. Clusters zeigte, dass die ältere Patientin eine hohe Bereitschaft zur aktiven Gesundheitsgestaltung hat. Der Wunsch nach Begleitung für die kommenden Lebensjahre und in Krisenzeiten hatte im Vergleich zu jüngeren Jahren eine deutlich höhere Relevanz (49 % zu 24 %) erhalten, der Wunsch nach intensiver medizinischer Begleitung hingegen hatte an Relevanz für die Konsultation verloren (noch 31 % gesamt). Auch die Motivation „Angst vor Krankheit“ ist im Altersvergleich zurückgetreten (41 % gesamt) hinter das Selbstbewusste: „Weil ich es mir wert bin“, also der Selbstfürsorge und Selbstwertschätzung (68 % im Alter zu 45 % in jüngeren Jahren). Erstaunlich war, dass keine Anti-Aging-Methoden nachgefragt wurden, obwohl dieser Begriff medial so popularisiert  wird.  „Gutes Altwerden“ war der Wunsch.

Cluster 3

Bei dem Rücklauf der Fragebögen wurden zum Bereich Sexualität/Erotik die wenigsten Angaben gemacht. Die Unterscheidung in „junge“ und „betagte“ Alte spielt hier sicher eine große Rolle. Für die erste Gruppe hat sich das gesellschaftliche Bild deutlich geändert. Von einem zugewiesenen asexuellen Leben früherer Generationen hin zu einer geradezu selbstverständlichen Erwartung an eine praktizierte Sexualität. Für die betagten alten Frauen hat das negative gesellschaftliche Altersstereotyp keine Sexualität mehr vorgesehen. Valide Daten beschränken sich oft nur bis zu einem Alter von 70 Jahren [4]. Diese zeigen, dass die sexuelle Zufriedenheit und die Zufriedenheit mit der Beziehung sich gegenseitig beeinflussen, ebenso gibt es eine deutliche Korrelation der sexuellen Zufriedenheit mit der Bewertung der eigenen körperlichen Attraktivität. Je größer das Selbstwertgefühl ist, desto größer ist auch die Freude an Sexualität.

Aber: Gut drei Viertel der über 65- jährigen Männer und nur gut ein Drittel der Frauen vergleichbaren Alters leben in einer festen Partnerschaft [5]. So prägt weiterhin das Bild des asexuellen Alters die gesellschaftliche Wahrnehmung der Frau; Männern wird noch am ehesten ein sexuelles Leben zugestanden. Dass auch im weit fortgeschrittenen Alter das sexuelle Interesse und die sexuellen Bedürfnisse völlig erlöschen, betrifft nur die wenigsten Frauen [4, 6]. Zwischen schamhaft unpassend und medial befördertem Leistungsdruck muss sie sich zurechtfinden. Wenn Sexualität nicht zur Sprache kommt, heißt es ja nicht, dass das Bedürfnis danach nicht existiert. In der wissenschaftlichen Literatur wird unter praktizierter Sexualität in der Regel die Kohabitation in heterosexuellen Beziehungen angeführt. Es gilt auch, die normativen Grenzen einer so wirklichkeitsfernen und eng verstandenen Sexualität zu thematisieren [4, 2]. Mit wem sonst , wenn nicht mit der vertrauten Gynäkologin, kann eine alte Frau über ihr Begehren sprechen?

Cluster 4

Der Wunsch nach besonderen Praxiseinrichtungen wurde von den Patientinnen in der Erhebung nicht geäußert, sie wurden sogar eher abgelehnt, da sie mit Gebrechlichkeit konnotiert wurden. Allerdings sind Vorkehrungen wie ausreichend vorhandene Haltegriffe in der Patiententoilette und der Umkleide, eine intime Atmosphäre für die Umkleide mit angenehmer Geräumigkeit und einer ausreichend großen Sitzgelegenheit, ein langer Schuhlöffel, Hygienetücher, Brillenablage usw. selbstverständlich. Betont wurde erneut, dass nicht die Ausstattung von Relevanz ist, sondern der wertschätzende Kontakt mit der Gynäkologin [23].

Psychosomatik

Trotz der dünnen Datenlage wird deutlich, was sich die ältere Patientin in der Praxis wünscht: das Gespräch, die Beziehung. Für eine psychosomatisch ausgerichtete Sprechstunde, die auf der bio-psycho-sozialen Anamnese basiert, sind die eminente Bedeutung des Gesprächs und der Beziehung keine Überraschung. Dennoch ergibt sich für die ältere Patientin eine neue Akzentuierung. Es ist die explizit zum Ausdruck gebrachte gesuchte Wertschätzung durch die Gynäkologin. Für das Kohärenzempfinden eines Menschen, eine der wesentlichsten Voraussetzungen für seelische Gesundheit, ist die Erfahrung von Wertschätzung unabdingbar. Und zwar Wertschätzung ungeachtet von Normzuschreibung, also auch Wertschätzung des gealterten, nach den gängigen Schönheitsnormen nicht mehr „ansehnlichen“  Körpers,  wenn  er  bei der Konsultation „angesehen“ wird.

44,9 % der Frauen leben in einem Einpersonenhaushalt [5]; außer bei der gynäkologischen Untersuchung sehen sie sich selten unbekleidet mit fremden Blicken konfrontiert. Entsprechend gaben bei der Erhebung auch mehr als 75 % der Frauen an, dass es ihnen im Alter schwerer als früher fällt, sich nackt zu zeigen. Die wertschätzende Haltung bei der gynäkologischen Konsultation beinhaltet auch die Einbeziehung all dessen, was zu einer sogenannten Lebensleistung der Patientin beitrug, d.h., die Schwangerschaften oder Interruptiones oder die schmerzlich verarbeitete Kinderlosigkeit, die Pflege von Angehörigen und die vermissten oder gescheiterten Partnerschaften, welche die Gynäkologin in den vielen Jahren begleitet hatte; geglückte oder gescheiterte Lebenspläne. All dies bedarf nicht langer Gespräche, die gynäkologische Praxis ist sicher nicht primär der Ort der Seelsorge, aber die Patientin sollte dort Anerkennung, Wiedererkennung und das gute Aufgehoben-Sein all dieser Ereignisse empfinden können. Ein Ausdruck von Resonanz also. „Resonanz ist der Ausdruck der Beziehung zur Welt, der Verbundenheit mit den anderen und dem Anklang, der Anerkennung, den ein Subjekt (eine Patientin) in dieser Welt erfahren kann“. Das Beziehungs-Motiv vieler älterer Patientinnen, oft von weit her noch immer zur „Vorsorge“ zu kommen, ist genau diese Suche nach Resonanz, an der es für sie in einer an Jugendlichkeit orientierten Welt mangelt [7]. Sie sind reich an Erfahrungen, werden aber kaum mehr wahrgenommen.

Das Bedürfnis, so lange wie möglich eigenständig und unabhängig zu leben und dafür selbst so viel wie möglich beizutragen, war aus der Erhebung deutlich abzulesen. Darauf sollte sich die Gynäkologin fokussieren [8]. Die salutogenetische Blickrichtung ist hierbei mehr gefordert als die kurative, also, wie ist möglich, trotz bestehender Erkrankung ein relativ eigenständiges Leben führen zu können. Es wäre hierbei hilfreich, die Kriterien für ein gutes Altern, von Paul Baltes in seinem SOC-Modell des erfolgreichen Alterns vorgestellt (Selektion, Optimierung, Kompensation) [9], zu kennen. Sie sind eine exzellente Richtschnur, um das beschwerlich gewordene Jetzt zu modifizieren. Zwar bedarf es ausreichender Gesprächszeit, um dieses bewährte und von selbstgestellten Anforderungen entlastenden SOC-Model in die Alltagswirklichkeit der Patientin zu übersetzen, sie ist jedoch geringer als vermutet. Und das Ergebnis ist ausgesprochen befriedigend.

In der Summe sollte unter psychosomatischem Verständnis idealerweise die gynäkologische Konsultation für die ältere Patientin folgende Aspekte beinhalten: Sie sollte supportiv [1] sein durch anteilnehmende Begleitung und Beratung in alterungsbedingten Krisen- und Schwellensituationen. Sie sollte edukativ [1] in der Beratung und Unterstützung für ein gutes Altern sein, um eine mög- lichst lange Unabhängigkeit zu ermöglichen und auch um Selbstwirksamkeit erfahrbar zu machen. Sie sollte integrativ das soziale Umfeld im Konkreten ventilieren, denn dies kann für einen Therapieverlauf, z. B. bei einer Chemotherapie, von großer Bedeutung sein.

Auch vergangene Lebensereignisse sollten in die Entscheidungsprozesse mit aufgenommen werden, da sie die Krankheitskonnotationen mitbestimmen. Sie sollte kurativ gemäß der Präferenz der Patientin sein und nach salutogenetischen Kriterien handeln.

Krankheitsbilder

Was sind die häufigsten Krankheitsbilder, welche eine besondere gynäkologische Fachkompetenz betreffen? Die AG Geriatrische Gynäkologie Campus Virchow Klinikum Berlin hat 2012 retrospektiv erste Hilfe Fälle der Ambulanz ausgewertet [10]. Es waren Beschwerden mit der Harnblasenfunktion (Nykturie, BI, OAB, Dys- urie), Beschwerden im Bereich der Vulva und Vagina, Beschwerden in- folge eines Descensus, vaginale Blutung und „Knoten“. Bemerkenswert jedoch war, dass es bei ca. 50 % der älteren Frauen über 65 Jahre, die sich in der Ambulanz notfallmäßig vorstellten, keine gynäkologischen Ursachen für die Beschwerden gab.

Für die niedergelassene Gynäkologin verlangt daher die Behandlung älterer Patientinnen insbesondere in folgenden Bereichen intensivierte Kenntnisse [11]:

  1. Zu jeder Form der Inkontinenzdiagnostik und Inkontinenztherapie (Harn- und Stuhlinkontinenz) und zwar sowohl die konservativen Behandlungsformen der Pessartherapie (Wann sind Sieb-, Ring-, Würfel-, oder Pelottenpessare indiziert?) als auch die medikamentösen (oral, lokal) und operativen Therapien betreffend [17]. Die Harninkontinenz bedeutet eine schwere Beeinträchtigung des psycho-sozialen Funktionsnieneaus. Bei einer Analinkontinenz ist die Beeinträchtigung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens noch größer. Wegen Scham, Selbstekel und Fatalismus  („da  kann man ja doch nichts tun“) thematisiert die ältere Patientin diese Problematik eher beiläufig oder gar nicht. Es ist die Gynäkologin, die diese Funktionsstörung ansprechen muss, offen direkt, aber mit respektvollem Taktgefühl. Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Physiotherapeutinnen ist unabdingbar, denn sie unterstützt und verbessert sowohl das Bedürfnis der älteren Frau nach Selbstwirksamkeit, als auch deutlich jegliches therapeutisches Outcome [16].
  2. Zur Vulvadiagnostik und zur Therapie vulvärer Erkrankungen, insbesondere des Lichen sclerosus, des Morbus Bowen, Morbus Paget, der Dermatitis und chronischen Dermatosen.
  3. Zur Therapie onkologischer Erkrankungen, denn ein therapeutischer Nihilismus ist ebenso unangemessen wie eine für die ältere Patientin eventuell letal gefährdende Regeltherapie. Ob für eine ältere Patientin eine Chemotherapie oder/und eine radikale Operation die angemessene und zumutbare Behandlung darstellt,kann erst wirklich nach einem onkologisch-geriatrischem Assessment beurteilt werden. In der Klinik bleibt dafür oft nicht ausreichend Zeit. Außerdem gibt vor fremden Ärzten in der Anonymität einer Klinik kaum eine Patientin ihre Schwäche preis; ihr gilt, so gut wie möglich, die Fassade der Souveränität aufrecht zu erhalten. Vor Therapiebeginn jedoch muss geklärt werden, ob die organisatorischen und therapeutischen Implikationen einer Therapie verstanden werden können: Der Funktionszustand muss geklärt werden, die kognitiven Fähigkeiten und psychischen Faktoren.
  4. Zu frühen Erscheinungsformen der Mangelernährung mit möglicher nachfolgender Sarkopenie. Kein anderes Fachgebiet bietet so frühzeitig die Möglichkeit, diese unterschätzte Gesundheitsgefährdung zu erkennen, da sich die Patientin bei der Untersuchung völlig entkleiden muss. Obwohl diese Fehl- und Mangelernährung vorwiegend die hochbetagte Patientin be- trifft, zeigt sich die Tendenz dazu schon deutlich früher. Die Folgeerscheinungen wie Muskelabbau, allgemeine Schwäche, Gangunsicherheit und Schwindel schränken die Mobilität der älteren Frau deutlich ein. Sie sind zusammen mit der Einnahme von Psychopharmaka die häufigsten Ursachen für Stürze und in deren Folge Hüft- und Oberschenkelfrakturen [12, 13]. So sollte auch der Osteoporose mit all ihren Frühformen in der Behandlung der älteren Patientin besondere Beachtung gelten.
  5. Zur Interaktion einzelner Medikamente sowie deren altersbezogenen, pharmakologischen Besonderheiten. Die PRISCUS-Liste [8,14,15] gibt dazu eine gute Entscheidungsgrundlage, obwohl sie zuletzt 2011 aktualisiert wurde.

Warum stellt die ältere Frau in der gynäkologischen Praxis eine Herausforderung dar?

Der Faktor Zeit
Eine gynäkologische Praxis, ob als Einzelpraxis oder in Gemeinschaft, ist ein betriebswirtschaftlich zu führendes Klein-Unternehmen. Es lässt sich exakt kalkulieren, wie viele Patientinnen an einem Tag behandelt werden müssen, um die Praxis wirtschaftlich gesund zu führen. Wie dem oben Gesagten zu entnehmen ist, benötigt ein adäquater Umgang mit der älteren Patientin wesentlich mehr Konsultations-Zeit als es in der Regel mit einer jungen Frau erforderlich ist. Zu dieser ökonomischen Erwägung kommt die Frage der Praxisorganisation. Wenn der Einbestellmodus eine 15-minütige Taktung vorsieht, um einen reibungslosen Ablauf zu ermöglichen, müssen die Termine für alte Patientinnen anders vergeben werden, zum Beispiel am Ende der Sprechstunde, auch sollte weitere Assistenz bei der Umkleide oder am Stuhl sollte angeboten werden können.

Die eigene Haltung dem Alter gegenüber
Die Gynäkologin muss ihre eigenen Alterskonnotationen und eventuelle Voreingenommenheiten, aber auch Idealisierungen reflektieren. Sich mit der älteren Patientin zu befassen, bedeutet auch immer, sich mit dem eigenen Altern zu befassen. Wenn die eigenen Assoziationen zum Alter vorwiegend negativ und aversiv sind, kann sie auch keine authentisch positive, wertschätzende Haltung zu der alten Patientin zeigen [1, 6].

Warum ist die ältere Frau eine Bereicherung für die gynäkologische Arbeit?

Die Betreuung älterer Patientinnen in der gynäkologischen Praxis birgt ein enormes gesundheitspolitisches Potential. Entgegengesetzt zu dem gewohnheitsmäßigen Narrativ, dass sie nur Kosten verursachen und eine wirtschaftliche Belastung darstellen, steht ihre hohe Bereitschaft, Eigenverantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen. Ihre Präferenz liegt bei der wertschätzenden Begleitung im Altwerden, bei der Schmerzfreiheit im Krankheitsfall und der Unterstützung im Sinne der Salutogenese [18], nicht in der Nutzung aller medizinischer Möglichkeiten. Die gynäkologische Konsultation kann damit ein idealer Rahmen für die Primär- und Sekundärprävention darstellen: medizinisch durch frühzeitige Intervention z. B. bei beginnender Osteoporose, psychisch durch Unterstützung ihres ganz individuellen Weges, sich als alte Frau ein robustes Selbstwertgefühl zu erhalten; ihr die Überlappung von körperlichen und psychischen Komponenten transparent machen [19] und sozial durch Förderung der Mobilität und gesellschaftlichen Teilhabe [18]. Sicherlich ist der Modus der klassischen „Krebsvorsorge“ nicht mehr adäquat und gut, dass er nun abgeschafft wird. Die aufgezeigten vielfältigen Chancen, die in der regelmäßigen gynäkologischen Konsultation liegen, sollten aber in einem anderen Setting und damit auch in entsprechender  Honorierung gewahrt bleiben. Nicht nur für die alte Patientin ist die Erfahrung von Resonanz beglückend und im weitgehenden Sinne heilsam, auch für die Gynäkologin bietet sie eine sehr befriedigende Burn-out-Prophylaxe [20−22]. Mit der Behandlung der alten Frauen in der gynäkologischen Praxis kann sich das gesamte Potenzial einer psychosomatisch ausgerichteten Gynäkologie realisieren.

Schlussfolgerungen aus der Befragung

  1. der Wunsch nach altersunabhängiger Behandlung bleibt bestehen; eine altersadaptierte Behandlung wird von den Wenigsten gewünscht
  2. der Wunsch nach Wertschätzung/persönlicher Anteilnahme nimmt im Alter zu
  3. im Krankheitsfall wird die größte Unterstützung im Bereich der Kommunikation (Zuspruch, Anteilnahme, Ehrlichkeit) gewünscht und nicht nach medizinischer Intervention
  4. der Wunsch nach intensivierter medizinischer Intervention ist häufig gekoppelt an gemutmaßte fehlende Wertschätzung des Alters (Mammografiescreening)
  5. kurative Aspekte nehmen ab
  6. Hilfewunsch zum Erhalt bzw. Wiederherstellung der Autonomie und sozialen Integration nehmen zu
  7. die bio-psycho-soziale Anamnese und ihre Beachtung als Mittel der Resilienzförderung nutzen.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Annegret Gutzmann
Röntgenstrasse 12
50823 Köln
anne.gutzmann@t-online.deFrauenärztin / Psychotherapeutin / Psychoonkologin, Sexualtherapeutin; 28 Jahre in eigener gynäkologischer Praxis tätig.

Slide Die ältere Patientin in der gynäkologischen Sprechstunde – das Potenzial nutzen! Gyne 08/2018

Literatur

Literatur:

  1. Korzilius Altern ist keine Katastrophe. Demografischer Wandel. Dtsch Ärztebl 2012; Jg. 109 :1860–1861
  2. Fesenfeld Das Alter-Bilder und Realitäten. Clio 2011; Jg. 36: 4 −7
  3. Gutzmann Die ältere Frau in der gynäkologischen Praxis. Erhebung an 100 Frauen über 70 Jahre. 2009, 2017; Erhebung und Ergebnisse bei der Autorin
  4. Schultz-Zehden B. Sexualität im bpb. APuZ 2013
  5. Information und Technik Nordrhein-West- Statistik kompakt 11/2017. Alleinlebende in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse des Mikrozensus. 2017
  6. Sydow K, Seiferth A. Sexualität in Paarbeziehungen. Praxis der Paar- und Familientherapie. Band 8. Hogrefe; 2011: 25−27
  7. Rosa H. Resonanz. Eine Soziologie der Suhrkamp Verlag Berlin; 2016: 19−26
  8. Wiedmann A, Kirschner-Hermanns Ein Umdenken in der Versorgung ist gefragt. Gynäkologie und Geburtshilfe 2016; 21: 21−24
  9. Baltes P, Mayer Die Berliner Altersstudie. Akademie Verlag.1996
  10. AG Geriatrische Gynäkologie Campus-Virchow-Klinikum Berlin. Chen F: Ärztliche Praxis Gynäkologie 6/12
  11. Chih-Kang Chen Die Gynäkologie der älteren Patientin. Ärztliche Praxis Gynäkologie 2012(6): 18−25
  12. Jahn K, Kressig R W, Bridenbaugh S A, Brandt Schwindel und Gangunsicherheit im Alter. Ursachen, Diagnostik und Therapie. Dtsch Ärztebl 2015; Jg 112. Heft 23: 387−393

Vollständige Literatur einsehbar unter: medizin.mgo-fachverlage.de/gyne

Gyne 07/2018 – Psychosomatische Aspekte bei Frühgeburtlichkeit – Perspektiven aus der klinischen Praxis

Gyne 07/2018

Psychosomatische Aspekte bei Frühgeburtlichkeit – Perspektiven aus der klinischen Praxis

Autorin: Judith Rothaug

 

Trotz bester medizinischer Versorgung Schwangerer steigt die Zahl der Frühgeburten in Deutschland [1]. Ca. 75.000 der jährlich 850.000 Neugeborenen in der Schweiz, Österreich und Deutschland kommen zu früh zur Welt [2]. Die Fortschritte in der neonatologischen Versorgung sind auch bei frühen Frühgeborenen (unter 28 SSW) mit einer verbesserten Überlebensrate verbunden. Dennoch versterben von den in der Woche Geborenen noch  94,9 %, während die Mortalitätsrate bei in der 28. Woche geborenen Kindern nur noch bei 7,8 % liegt [3]. In Anbetracht dieser beträchtlichen Differenzen kann auch die psychische Belastung der werdenden oder zu früh gewordenen Mutter nur in Abhängigkeit vom Gestationsalter sinnvoll betrachtet werden. Lehrbücher der Psychosomatik in Gynäkologie und Geburtshilfe weisen darauf hin, dass erhebliche seelische Belastungen der Mütter, seltener auch bei Vätern, mit der Frühgeburt assoziiert sein können [4, 5].

Psychische Risikofaktoren – die “black box“

Neben den potenziellen medizinischen Auslösern einer Frühgeburt (Infektionen, plazentaassoziierte Erkrankungen wie fetale Wachstumsrestriktion oder Präeklampsie, vorzeitige Wehentätigkeit, vorzeitiger Blasensprung etc.) werden auch psychische Risikofaktoren als auslösendes Moment diskutiert [6]. Jede Schwangerschaft stellt nicht nur eine körperliche Herausforderung für die werdende Mutter dar, sondern auch eine z. T. beträchtliche psychosoziale Anpassungsleistung an gravierende Veränderungen im Leben. Für einen komplikationsreichen Schwangerschaftsverlauf inkl. Frühgeburtlichkeit werden häufig psychosoziale Belastungen und Stress mit verantwortlich gemacht. Hinter diesen Schlagworten können sich unterschiedlichste Phänomene verbergen: Partnerschaftskonflikte, psychische Vorerkrankungen der Mutter, finanzielle Nöte, fehlende familiäre Unterstützung, Abhängigkeitserkrankungen der Mutter/Eltern, hohe berufliche Belastung, Leistungsdruck, schwieriges soziales Umfeld und Ähnliches. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Moderierend auf das Ausmaß des ausgelösten Stresses wirkt sich immer die Bewältigungskompetenz der Schwangeren, ihr Coping, aus. Empirisch gesicherte Zusammenhänge zwischen psychosozialen Belastungen und Frühgeburt sind schwer auffindbar und bewegen sich eher an der Signifikanzgrenze gegenüber den klar identifizierbaren medizinischen und verhaltensbedingten  (z. B. Rauchen) Risiken [7].

Ohne konkrete Zahlen benennen zu können, bestätigen sich die in der Literatur diskutierten psychosozialen Belastungsfaktoren im Arbeitsalltag unserer Klinik. Unter den stationären Patientinnen mit drohender Frühgeburt finden sich überproportional häufig Frauen, die sich in einer beruflich stark belasteten Situation befanden, die gerade einen Umzug zu organisieren hatten, die Partner- schaftskonflikte auszutragen hatten, die eine seelische Vorerkrankung aufweisen und Ähnliches. Vor Verallgemeinerungen ist dennoch zu warnen. Einerseits finden sich die „gestressten“ Schwangeren ohne Komplikationen nicht in unserem Patientinnenkollektiv. Zum anderen wird es sich bei drohender Frühgeburt immer um ein multifaktorielles Geschehen handeln, das kaum auf einen alleinigen Auslöser zurückführbar sein wird. Ein zu starkes Abheben auf psychosoziale Ursachen kann bei der betroffenen Schwangeren verstärkt Versagens- und Schuldgefühle auslösen, die zur weiteren Bewältigung der Situation eher dysfunktional sein werden.

Das Damoklesschwert der drohenden Frühgeburt

Fallbeispiel: Frau Hope — Der Wunsch nach Leben siegt über die Angst

Frau Hope (Name von der Autorin geändert) ist eine 37-jährige Patientin, verheiratet, im ländlichen Raum lebend, beruflich und sozial gut integriert, die bereits 2010 und 2012 in ihren Schwangerschaften an einer schweren Präeklampsie erkrankte. Tochter H., entbunden 2010 in der SSW, verstarb nach vier Wochen neonatologischer Intensivbehandlung, Tochter J. verstarb 2012 in der SSW intrauterin. Im Januar 2018 ist sie erneut schwanger, das Risiko einer erneuten Präeklampsie steht im Raum. Ab der 16. SSW wird Frau Hope von der klinikinternen Psychologin mitbetreut. Zunächst sind Ängste um die aktuelle Schwangerschaft im Vordergrund, doch im Verlauf der Gespräche, die mit den ambulanten geburtshilflichen Kontrollterminen kombiniert werden konnten, tauchen zunehmend die unverheilten seelischen Wunden der beiden ersten tragisch geendeten Schwangerschaften auf. Frau Hope berichtet von den schweren Jahren, die den beiden verstorbenen Kindern folgten. Auch nach 2012 habe sie versucht, mit ihrem Leben weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Das ging eine Zeit lang gut, sie habe funktioniert, auch beruflich. Dann habe es einen Tag gegeben, an dem die Kollegin mit ihrem Neugeborenen die Arbeitskollegen besucht habe. Da kam der Erdrutsch. Man könne es einen Nervenzusammenbruch nennen, meinte Frau Hope. Sie habe sich weinend in der Toilette eingesperrt, sei untröstlich gewesen, nichts sei mehr gegangen. Der folgende stationäre Klinikaufenthalt in einer psychiatrischen Klinik habe ihr geholfen, ihr zerbrochenes Selbst Stückchen für Stückchen wieder zusammenzufügen. Dennoch sei ein Gefühl geblieben, als fehle ein Stück der eigenen Seele, als sei es mit den verstorbenen Kindern mitgegangen. Die anschließende tagesklinische Behandlung habe ihr so viel Stabilität vermitteln können, dass das Leben weitergehen konnte. Auch ihre Beziehung zum Partner habe sich nach einer tiefen Krise wieder stabilisiert, sie seien sich als Paar heute näher denn je.

Drohende Frühgeburt in einem Gestionsalter vor der extrauterinen Lebensfähigkeit des Kindes löst bei nahezu allen betroffenen Müttern starke Sorgen und Ängste um das Kind aus. In den meisten Fällen wird diese Situation mit einem stationären Klinikaufenthalt verbunden sein, der bei der Patientin nicht immer auf Gegenliebe stößt. Besonders, wenn bereits Kinder vorhanden und Zuhause zu betreuen sind, stellt die Zeit in der Klinik die werdenden Mütter vor emotionale und logistische Herausforderungen. An dieser Stelle wird häufig auch ein Schlaglicht auf die Qualität der Paarbeziehung geworfen: Ist der Partner in der Lage, emotional Trost zu spenden? Wird ihm zugetraut, die Lage zu Hause alleine unter Kontrolle zu halten, die anderen Kinder adäquat zu versorgen? Fehlende Unterstützung wird in der Literatur als ein psychosozialer Risikofaktor für die seelische Gesundheit der werdenden Mutter gewertet und kann in extremen Fällen Konsequenzen bis zum Einbezug des Jugendamtes haben. Bei zu versorgenden Geschwisterkindern bietet sich häufig die Unterstützung durch den Sozialdienst der Klinik an, um die Situation Zuhause abzusichern und der Schwangeren einen ruhigeren Klinikaufenthalt zu ermöglichen.

Die psychologische Betreuung konzentriert sich abhängig von der Prognose für den weiteren Schwangerschaftsverlauf auf die Reduzierung der Ängste. Außerdem wichtig ist die Bearbeitung von häufig auftretenden Schuldgefühlen und Versagensgefühlen, die in der Regel gut für kognitive Umstrukturierungen zugänglich sind. Im schlimmsten Fall muss die Vorbereitung des Ab- schiednehmens und Trauerbegleitung bei Versterben des Kindes erfolgen. Mit zunehmender Dauer des Klinikaufenthaltes löst sich zumeist die psychische Anspannung, insbesondere, wenn die Schwangerschaft bereits den Bereich der Lebensfähigkeit des Kindes erreicht hat. Bei vorbestehenden mütterlichen Psychopathologien bleibt die weitere psychologische Betreuung ein wichtiger Baustein in der Versorgung der werdenden Mutter. In diesen Fällen sollte zusätzlich eine enge Kooperation mit den betreuenden Psychiatern angestrebt werden. Möglich ist dies mit einer Klinik für Psychiatrie wie unsere, die in Jena mit ihrer Spezialsprechstunde “peripartale psychische Erkrankungen“ ihren stationären Mutter-Kind-Einheiten und der neueröffneten Mutter-Kind-Tagesklinik eine hilfreiche Anlaufstelle für psychisch erkrankte Mütter darstellt.

Frühe Frühgeburt – die Achterbahn des Hoffens und Bangen

Entbindungen vor der 29. SSW gelten als sehr frühe Frühgeburten. Das Risiko schwerer Komplikationen oder des Versterbens des Kindes sinkt mit steigender Reife. Wie gut die psychologische Betreuung der betroffenen Eltern gelingt, hängt unter anderem davon ab, ob bereits vorgeburtlich beim stationären Aufenthalt der Mutter eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aufgebaut werden konnte. In diesen Fällen kann die Weiterbetreuung für die Eltern in der Neonatologie eine wichtige Ressource werden. Bestand vorab kein Kontakt zur Psychologin (das ist häufig der Fall, wenn bei unaufhaltsamer Frühgeburt das Kind sofort aus dem Kreißsaal auf die Neonatologie verlegt wird), ist es für die meisten Eltern ein zu großer seelischer „Kraftaufwand“, in der stark belasteten Situation noch ein zusätzliches Beziehungsangebot, welches die psychologische Gesprächsmöglichkeit immer darstellt, anzunehmen und sich darauf einzulassen [4]. Die meisten Eltern befinden sich nach der zu frühen Ankunft ihres Kindes im Modus des „Funktionieren-Müssens“, häufig auch noch in einem seelischen Schockzustand: Das Kind zieht alle Ressourcen und Aufmerksamkeit auf sich, das fremde Setting der neonatologischen Intensivstation (ITS) muss verarbeitet werden sowie der Schock des frühen Endes der Schwangerschaft, die körperlichen Belastungen durch die Sektio, teilweise auch geburtshilfliche Komplikationen von der Mutter verarbeitet werden müssen. Eine Fülle von Anpassungsleistungen ist von den Eltern gefordert, völlig herausgerissen aus allem, was vorher erwartet und erhofft wurde, weit weg von der rosaroten Wunschvorstellung v. a. mancher Erstgebärenden [8, 9].

Viele Eltern beschreiben einen Schrecken, wenn nicht sogar Schock, beim ersten Anblick ihres Kindes. „Es sieht aus wie etwas aus dem Aquarium Gefallenes!“ formulierte es eine Patientin. Gefühle von Angst, Überforderung und Hilflosigkeit sind eher die Regel als die Ausnahme. Gerade bei Müttern aus psychosozialen Risikopopulationen kann diese Überforderung ein Fernbleiben vom Kind auslösen. Wochenlang ausbleibende Besuche der Mutter beeinträchtigen das Gedeihen des Kindes. Vorwürfe und Abwertung der Mutter wären jedoch die falsche Strategie, gerade diese Mütter brauchen unsere volle Unterstützung, Wertschätzung und viel Zuspruch, um den Mut und die Kraft zu finden, sich adäquat um ihr Kind kümmern zu können.

Fallbeispiel Fortsetzung

Frau Hope wurde in der 22. SSW stationär in unserer Klinik für Geburtsmedizin aufgenommen. Die Frequenz regelmäßiger Gespräche mit der Psychologin konnte ab diesem Zeitpunkt bedarfsabhängig angepasst werden, phasenweise auf 2-3 Gespräche pro Woche. Im Zuge der psychotherapeutischen Gespräche gelang es, die übermächtige Angst um den ungeborenen Sohn zu reduzieren, durch hypnotherapeutische Techniken konnte die Trauerverarbeitung um die ersten beiden Kinder entscheidend verbessert werden und der “fortgegangene“ Anteil der eigenen Seele reintegriert werden. Sporadisch wird der Ehemann der Patientin in die Gespräche eingebunden, zunächst eher am Rande, später vertieft und auch in Einzelgesprächen. Die Entbindung musste aufgrund steigender Blutdruck- und Laborwerte in der 25.+4 SSW vorgenommen werden. Der beeindruckende Humor der Patientin wird an ihrem Zitat des Anästhesisten deutlich, der vor der Sektio die Bitte der Hebamme, die Patientin doch zuzudecken, weil sie so friere (erkennbar an ihrem Zittern) lakonisch treffend kommentierte: „Die Frau friert nicht. Die Frau hat Angst!“. Die ersten vier Wochen nach der Entbindung waren für beide Eltern extrem belastend. Die „magischen vier Wochen“, die Lebenszeit der ersten Tochter, standen im Raum. Auch der Vater des Kindes litt unter starken Angstattacken beim Betreten der neonatologischen Station, tendierte zu Vermeidungsverhalten („Mach du mal“, häufiger Kommentar zur Ehefrau, wenn es um Kontaktaufnahme mit dem Sohn ging) und Schlafstörungen. Der abendliche Anruf in der Klinik geriet für beide zur Mutprobe. Trotz der starken Ängste gelang es dem Paar, täglich einige Stunden bei ihrem Sohn zu verbringen. Der neonatologische Verlauf des kleinen Jungen war erwartungsgemäß komplex und schwierig (insgesamt drei Darm-OPs waren notwendig, Infektionen waren auszustehen). Entsprechend regelmäßig und engmaschig wurde die psychologische Betreuung des Paares gestaltet. Wieder stand Angstbewältigung im Zentrum, kombiniert mit der Stärkung eines vorsichtigen Optimismus und dem Öffnen einer positiven Zukunftsperspektive, ohne die Ambivalenz der Gefühle zwischen Hoffen und Bangen zu verdrängen. Auftauchende traumatische Erinnerungen an die erste Tochter wurden traumtherapeutisch bearbeitet und konnten gut integriert werden. Die Gespräche fanden abseits der neonatologischen Station, in einem ruhigen, ungestörten Raum statt, eine unabdingbare Voraussetzung für effektive Bearbeitung schwerer psychischer Belastungen.

Frühgeburt ab der 28. Woche – ein Spaziergang?

Auch wenn die Überlebensrate bei einer Entbindung in der 28. Woche bereits bei fast 92 % liegt, stellt diese Situation für die Mütter und Väter dennoch wie bei den frühen Frühchen ein einschneidendes Erlebnis dar. Die enttäuschten Erwartungen an die Geburt, das Wochenbett getrennt vom Kind, die Sorge um die weitere gesunde Entwicklung des Kindes, die Fremdheit der intensivmedizinischen Welt, in der das Kind versorgt wird — all das spielt in der Wahrnehmung der Eltern eine große Rolle. Auch ohne unmittelbare Lebensgefahr für ihr Kind gerät die Zeit nach der Entbindung für Frühcheneltern zu einer harten Belastungsprobe. Für erwachsene Intensivpatienten gibt es mittlerweile eine Fülle von Studien, die sich der extremen psychischen Belastung widmen, die durch das Setting Intensivstation (ITS) ausgelöst werden [10, 11]. Ca. 20 % der überlebenden Patienten leiden nach dem ITS-Aufenthalt am Vollbild einer posttraumatischen Be- lastungsstörung [10]. Auch für Angehörige, z. B. von transplantierten Patienten, konnte diese hohe psychische Belastung gezeigt werden [12]. Für neonatologische Intensivstationen liegen bisher keine vergleichbaren Zahlen vor. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass ähnlich hohe Belastungen bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörung bei den Eltern durch die Frühgeburt entstehen können. Entsprechend wichtig ist deshalb die Achtsamkeit für die psychische Verfassung der Eltern, deren Kind neonatologisch betreut wird. Schlimmstenfalls wird das Kind nach seiner Versorgung gesund entlassen, die Mutter, der Vater jedoch leiden an einer ausgeprägten, behandlungsbedürftigen seelischen Erkrankung, die im Zuge des Klinikaufenthaltes des Neugeborenen entstand. Über die seelische Verfassung des behandelten kleinen Patienten kann nur spekuliert werden.

Und danach “happily ever after“?

Langfristige Auswirkungen für die Eltern sind wenig untersucht. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Frühgeburt eines Kindes im Sinne eines unspezifischen Stressors das Auftreten einer seelischen Erkrankung begünstigt. Besonders betroffen dürften Eltern sein, deren Kind zwar überlebt hat, jedoch mit deutlichen Beeinträchtigungen leben muss. Interessenverbände Frühgeborener heben unter anderem die hohen materiellen Belastungen hervor, die ja nach Schweregrad bleibender Schädigungen einen hohen Aufwand von der Familie fordern. Je nach Dramatik der Frühgeburtlichkeit können die betroffenen Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein den Status des „Sorgenkindes“ in der Familie behalten, während die Eltern noch langfristig an den psychischen Folgen des Ereignisses leiden.

Fallbeispiel Fortsetzung

„Was?! Jetzt schon?!“ Die erste Reaktion des Paares auf die angekündigten Entlassungsuntersuchungen des Sohnes fiel so aus. Nach zwölf Wochen neonatologischer Behandlung zeichnete sich die Entlassung des Kindes ab. Die Eltern werden mit ihrem Sohn nach Hause gehen. Ganz fassbar scheint dieses Glück für sie noch nicht zu sein. Das Kinderzimmer ist noch nicht gekauft, kaum Vorbereitungen getroffen. „Turbo-Nestbau“ nennt es eine Kollegin, was jetzt ansteht. Die Angst um das Kind hatte diesen natürlichen Instinkt bisher fast im Keim erstickt. In Rekordzeit wird von den Eltern alles erledigt. Das Zuhause wartet auf den kleinen Jungen und seine leidgeprüften Eltern. Bald beginnt der Alltag als Eltern, der für dieses Paar wohl niemals so ganz alltäglich wie bei manch anderen Eltern werden wird.

Die Frühchen selbst haben nach dem zu frühen, schwierigen Start ins Leben häufig einen weiteren steinigen Weg vor sich. In Metaanalysen finden sich erhöhte Risiken für Entwicklungsstörungen, Mobbing in der Schule und psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter [13]. Im Säuglings- und Kleinkindalter muss vermehrt mit Fütter- und Schlafstörungen sowie Beziehungsstörungen gerechnet werden, wobei die Gruppe seelischer Störungen insgesamt im Säuglings- und Kleinkindalter noch beträchtliche Forschungslücken aufweist [14].

Korrespondenzadresse:

Dr. phil. Judith Rothaug, Dipl.-Psych., Psychoonkologin
Perinatalzentrum Universitätsklinikum Jena
Am Klinikum 1
07747 Jena
Judith.Rothaug@med.uni-jena.de

Slide Psychosomatische Aspekte bei Frühgeburtlichkeit – Perspektiven aus der klinischen Praxis Gyne 07/2018

Literatur

  1. Bergmann RL, Dudenhausen JW. Prädikton und Prävention der Frühgeburt. Der Gynäkologe 2003; 36: 391–402
  2. Jorch G. Frühgeburt. Rat und Hilfe in den ersten Lebensmonaten. Urania, Freiburg im Breisgau 3. Aufl: 2013
  3. Patel RM, Kandefer S, Walsh MC et al. Causes and Timing of Death in Extremely Premature Infants from 2000 through 2011. N Engl J Med 2015; 372:331–340
  4. Rhode A, Dorn A. Gynäkologische Psychosomatik und Gynäkopsychiatrie. Schattauer, Stuttgart; 2007
  5. Weidner K, Rauchfuß M, Neises (Hrsg.). Leitfaden Psychosomatische Frauenheilkunde. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln; 2012
  6. Ehlert U. Einfluss von Stress auf den Schwangerschaftsverlauf und die Geburt. Psychotherapeut. 2004; 49: 367–376
  7. Dudenhausen JW, Kirschner R. Psychosoziale Belastungen als Risikofaktoren der Frühgeburt – Erste Befunde der Daten des BabyCare-Projektes. Zentralbl Gynakol 2003; 125: 112–122
  8. Panagl A, Kohlhauser C, Fuiko R, Pollak A. Belastungen von Eltern auf neonatologischen Intensivstationen – Selbsteinschätzung versus Fremdeinschätzung. Geburtsh Frauenheilk 2002; 62: 369–375
  9. Brisch KH, Buchheim A, Köhntop B et al. Präventives psychotherapeutisches Interventionsprogramm für Eltern nach der Geburt eines sehr kleinen Frühgeborenen – Ulmer Modell. Monatsschr Kinderheilkd 1996; 144: 1206–1212
  10. Jackson JC et al. Posttraumatic stress disorder and posttraumatic stress symptoms following critical illness in medical intensive care unit patients: assessing the magnitude of the problem. Critical care 2007; 11: R27
  11. Kapfhammer HP, Rothenhäusler HB, Krauseneck T et al. Posttraumatic Stress Disorder and Health-Related Quality of Life in Long-Term Survivors of Acute Respiratory Distress Syndrome. Am J Psychiatry 2004; 161: 45–52
  12. Krauseneck T, Rothenhäusler HB, Schelling G, Kapfhammer HP. Posttraumatische Belastungsstörungen bei somatischen Erkrankungen. Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73: 206–217
  13. Day KL , Schmidt LA, Vaillancourt T et al. Long-term Psychiatric Impact of Peer Victimization in Adults Born at Extremely Low Birth Weight. Pediatrics 2016; 137: e20153383; DOI: 10.1542/peds.2015- 3383
  14. S2k-Leitlinie 028/041 – Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulter; aktueller Stand: 09/2015

Artikel des Monats April 2019

Artikel des Monats April 2019

vorgestellt von PD Dr. med. Friederike Siedentopf

Mehnert-Theuerkauf A, Lehmann-Laue A.

Psychoonkologie.

Psychother Psychosom Med Psychol. 2019 Mar;69(3-04):141-156.

In dem lesenswerten Review-Artikel wird die Bedeutung und der aktuelle wissenschaftliche Stand der Psychoonkologie sehr übersichtlich und klar referiert. Einzelne Merksätze sind hervorgehoben, die ich im Folgenden zusammenfassen möchte, v.a. um Interesse zu wecken, den ganzen Artikel zu lesen, der auch als CME-Fortbildung zertifiziert ist. In den letzten Jahren ist die Anzahl der Menschen, die Krebs überleben oder lange zeit mit der Erkrankung leben, deutlich angestiegen. Die altersstandardisierten Sterberaten bei Frauen sind zwischen 2005 und 2015 um 7% gesunken.

Psychoonkologische Interventionen beziehen sich u.a. auf Psychoedukation über Belastungsreaktionen und Krankheitsverarbeitung, kommunikative Aspekte einerseits in Bezug auf die Arzt-Patientin-beziehung, andererseits auf die Kommunikation innerhalb der Partnerschaft und der Familie. Etwas mehr als jeder 2. Krebspatient (52%) fühlt sich psychisch stark belastet und berichtet im Durchschnitt über 8 belastende Probleme. Eine Krebserkrankung betrifft auch das soziale Umfeld und erlangt damit den Status einer ‚Wir‘-Erkrankung. Die psychische Belastung betrifft Partner von Krebserkrankten genauso sehr, wenn nicht mehr als die Patienten selber. Krebsspezifische Fatigue zählt zu den häufigsten längerfristigen Folgen der Krebstherapie und geht mit einer deutlichen Einschränkung der Bewältigung des Alltags, beruflicher Anforderungen und der Lebensqualität insgesamt einher. Sexuelle Funktionsstörungen sind teilweise behandlungsbedingt, aber auch Folge einer hohen psychischen Belastung. Das Risiko für Arbeitslosigkeit und Frühberentung ist bei Krebspatienten im Vergleich zu gesunden Probanden signifikant erhöht, auch wenn Patienten eine hohe Motivation haben, wieder zu arbeiten! Ein höheres Alter beeinflusst in besonderem Maße die Diagnostik psychischer Störungen und die Erfassung psychischer Belastungen (Given & Given 2010). Die Angst, zusätzlich zur Krebserkrankung an einer noch immer als stigmatisierend erlebten psychischen Störung zu leiden, ist für viele Patienten ein wichtiger Grund, psychische Belastungen nicht anzusprechen und vorhandene Unterstützungsangebote nicht zu nutzen. Die Verbesserung des Zugangs zu psychoonkologischen Unterstützungsangeboten setzt eine zielgerichtete Diagnostik bzw. ein Belastungsscreening im rahmen der onkologischen Behandlung und Nachsorge voraus! Prävalenz und Schweregrad psychischer Symptome und deren Behandlungsbedürftigkeit werden gerade bei älteren Menschen häufig unterschätzt. Für die psychosoziale Diagnostik stehen valide Fragebögen und Itembanken zur Verfügung, die sich je nach Zielsetzung der Diagnostik für den klinischen Alltag wie auch für Forschungs- und Evaluationszwecke eignen. Ein Screening sollte sich deshalb immer auch nach den lokal vorhandenen Versorgungsstrukturen und Angeboten richten, sodass vermieden wird, dass Patienten auf Belastungen gescreent werden, dann aber nicht entsprechend psychologisch versorgt werden. Psychoonkologische Erkenntnisse sind wichtig für Prävention, Früherkennung, Diagnostik, Behandlung, Rehabilitation, Nachsorge und palliative Versorgung. Nach wie vor erhalten zu wenig Patienten eine adäquate psychoonkologische Versorgung – u.a. auch aufgrund ungeregelter Finanzierung. Für eine patientenzentrierte Versorgung ist über die professionelle Versorgung hinaus die Krebsselbsthilfe von großer Bedeutung. Psychoonkologische Interventionen um fassen ein breites Spektrum an Zielsetzungen zur Verringerung psychosozialer Belastungen und psychischer Störungen und zur Aufrechterhaltung der Lebensqualität bei Patienten und ihren Angehörigen. Nachsorgeprogramme umfassen u.a. die Beratung, Psychoedukation und Verbesserung des Gesundheitsverhaltens, wie z.B. Bewegung und Sport, Ernährung sowie Stressbewältigung (aus Watson & Kissane 2011).

Friederike Siedentopf, April 2019

PD. Dr. med. Friederike Siedentopf

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